Auf die meisten von uns würde die Höhe wohl schwindelerregend wirken. Eugenia Lehmann aber hat jeden Schritt im Blut. Sechs Meter an seinem höchsten Punkt misst das 15 Meter breite Bauwerk, in dem die Noch-Fünfzigjährige mit der Gießkanne in der Hand umher kraxelt.


Von Kindesbeinen an gewohnt ist sie das, entsprechend gemsenhaft die leichtfüßige Sicherheit ihrer Tritte. Oft genug ist diese schon auf dem »Schleichweg« hinunter zur Mariengrotte gefordert. Denn die in den steilen Waldhang gegrabenen Stufen sind zwar durch die Abschnitte schmaler Baumstämme gesichert. Aber diese Stufen sind unregelmäßig, bei Feuchtigkeit und Nässe überdies glitschig und bei Eis und Schnee erst recht potentielle Knochenbrecher.
Am oberen Ende des Steilweges hier im Hinterland Oberharmersbachs, im Zuwälder Tal, liegt das Leibgedinghaus des Gallushofes, Eugenia Lehmanns Elternhaus. Ein Stockwerk über ihrer Mutter Martha Lehmann wohnt Eugenia in dem Fachwerkhaus, seit zwei Jahrzehnten. Die inzwischen betagte Mutter bereits hatte, solange ihr das gesundheitlich möglich war, die tagtägliche Betreuung der Mariengrotte inne.
Diese entstand in den 1920er Jahren, zum Gedenken der Opfer und Vermissten des Ersten und dann auch des Zweiten Weltkrieges, nach dem Vorbild der Mariengrotte im französischen Lourdes. Initiator sowie Planer war ein Bruder von Eugenias Großvater, seines Zeichens Pfarrer. Beim Bau der imposanten Gedenkstätte jedoch halfen viele Familien aus dem Tal – die Steine stammen aus einer Schwerspatgrube, die damals in etwa einem Kilometer Entfernung taleinwärts betrieben wurde. Die Einweihung des imposanten Denkmals fand im Jahre 1928 statt.
»Viele Leute denken, dass die Gedächtnisgrotte von der Gemeinde unterhalten wird, aber sie hat schon immer zum Hof gehört – für ihren Erhalt ist von Anfang an die Familie zuständig, begonnen hat das mit meinem Großvater«, stellt der heutige Gallusbauer klar, Eugenias Bruder Manfred. Er ist in punkto Grotte »für das Grobe« zuständig. Denn an dem Mörtel, mit dem die Steine verbaut wurden, nagt stetig der Zahn der Zeit: Durch Frost und Feuchtigkeit lösen sich Steine, die es alle zwei bis drei Jahre zurück an ihren Platz zu befördern und mit Schnellbinderzement anzukleben gilt. So, wie erst im letzten Herbst wieder. Wobei dann auch gleich mit einem Hochdruckreiniger Moos und Unkraut entfernt wird.
»Unsere Grotte«
Im laufenden Betrieb hingegen hat der Hofbauer wenig mit dem Denkmal zu tun, ist dessen tagtägliche Betreuung doch »schon immer Frauenarbeit gewesen.« Lag diese früher komplett in Altbäuerin Martha Lehmanns Händen, so ist sie heutzutage aufgeteilt. Die heutige Hofbäuerin Irmgard Lehmann, Eugenias Schwägerin also, ist für die Kerzen verantwortlich. Nach denen schaut sie täglich oder je nach Saison alle zwei Tage und füllt sie wieder auf. »Und Eugenia macht den kompletten sonstigen Bereich, sprich die Pflege der Blumen und das Sauberhalten, sie übernimmt die Hauptarbeit.«
Die derart Gelobte sieht das in ihrer Bescheidenheit so jedoch ganz und gar nicht. Schließlich sei das »unsere Grotte«, betont die 51-Jährige mit Blick auf die Familie. Im Sommer in der Regel einmal täglich besucht die gelernte Hauswirtschafterin, die als Köchin das Zeller Kapuzinerkloster versorgt, das Denkmal – meist gegen Abend, nach der Arbeit. Blumengießen und damit Wasserschleppen ist dann angesagt, sachte plätschert eine gefasste Quelle am Fuße der Grotte. Doch auch Verwelktes gilt es regelmäßig zu entfernen, zu düngen, sowie regelmäßig das zu entfernen, »was vom umstehenden Wald von oben reinkommt«. Laub also muss gefegt und vom Wind verstreutes Geäst eingesammelt werden – und manchmal auch Müll in Form von beispielsweise Pizzaschachteln, den stets Willkommen geheißene – und früher gar in Bussen angereiste – Besucher in der abgelegenen Idylle leider hinterlassen. »Im Allgemeinen, muss ich sagen, ist es aber sauber dahinten«, betont Eugenia Lehmann mit ihrer ruhigen, warmen Stimme.
»… und nimm gleich den Besen mit«
Unzählige Topfblumen sind auf dem Bauwerk verteilt, an dessen Fuße sich zudem ein liebevoll gehegtes Blumenbeet befindet. Den üppigen Blumenschmuck wechselt die zierliche Frau saisongemäß in jedem Quartal. Der Jahresreigen beginnt mit schalenfüllenden Osterglocken im Frühjahr. Hortensien und Geranien folgen im Sommer. »Da hänge ich dann immer bei der Mutter einen Geranienkasten vom Balkon ab und bringe ihn runter zur Grotte.«
Sofern dabei zu Fuß unterwegs, setzt Eugenia Lehmann ihre Schritte auf der unwegsamen Steiltreppe dann blind, »man weiß ja inzwischen, wo man hinlaufen muss«, konstatiert sie lapidar und lacht. Sobald die Geranien wegen der geringen Sonneneinstrahlung bei dem Denkmal die Blüte einstellen, werden sie gegen den nächsten Kasten vom mütterlichen Balkon ausgetauscht. Im Herbst folgen üppige Chrysanthemenbüsche und im Winter dann von Schwägerin Irmgard selbstgefertigte Trockengestecke.
Die Zeit, die die Gallushoferin mit dem Pflegen der Grotte verbringt, hat sie noch nie gemessen, so sehr gehört dieses Tun in aller Selbstverständlichkeit zu ihrem Leben. »Das geht so im Vorbeilaufen eigentlich, das ist schon immer so gewesen, von der Mutter her«. Auch für die bedeutete die Mariengrotte nie lästige Pflicht, sondern eine bereichernde Lebensaufgabe.
»Und wenn sie mal nicht konnte, dann hat es zu uns Kindern geheißen: Geh’ mal hinter und nimm’ gleich den Besen mit«, lacht Eugenia Lehmann wieder, »für mich gehört die Grotte zum Tagesablauf einfach dazu.«
»… das motiviert«
Auch die fast lebensgroßen Gipsfiguren müssen regelmäßig sauber gehalten werden, desgleichen der Brunnen. »Und wenn dann Leute vom Saarland oder von Gottweißwoher kommen und sagen, ein Tag muss drin sein, an dem wir hierher kommen, dann denke ich, dass es sich lohnt – das motiviert wieder«, freut sie sich.
Und sie weiß: Auch aus dem Tal und der Umgebung kommen noch immer viele Menschen mit ihren Sorgen hierher an diesen abgelegenen Rückzugsort und zünden Kerzen an, zum Beispiel für Bekannte oder Verwandte. Und: »Seit Corona kommen vermehrt auch wieder jüngere Besucher, nicht mehr nur ältere.« Wenn die Grotte des Abends von vielen Kerzenlichtern erleuchtet ist, »dann weiß man, es waren über den Tag verteilt viele Leute da –das ist schön.« Alljährlich im August, zu Mariä Himmelfahrt, führt zudem eine Lichterprozession hierher.