Bis vor Kurzem haben Nordrachs Wildorchideen geblüht. Mit Absicht berichten wir erst jetzt darüber. »Es gibt Leute, die meinen, die Pflanzen ausgraben und mit nach Hause nehmen zu müssen«, schimpft Siggi Erdrich, »dabei wachsen die im Garten gar nicht an.«
Wer Wildorchideen ausgräbt, der macht sich nicht nur strafbar, denn die stark gefährdeten Pflanzen stehen unter teils strengstem Naturschutz. Der Frevel ist obendrein auch denkbar unsinnig. »Wenn man die zu sich in den Garten pflanzt, dann wachsen die nicht an«, weiß Erdrich, »selbst wenn man Muttererde von der Ausgrabestelle mitnimmt. Die Leute wissen scheinbar gar nicht, was für einen Schaden sie anrichten.«
Als wir in einem von Nordrachs Seitentälern an einem Parkplatz aussteigen, zeigt Siggi Erdrich auf Sumpfgebiet liebendes Wollgras mit seinen langen weißen Blütenhüllfäden: »Das ist sehr selten – in Nordrach kenne ich nur drei Stellen, wo es das gibt.« Dann marschieren wir los, einen Waldweg entlang, bis sich der Blick nach einiger Zeit auf ein riesige, von Wald umsäumte Hangwiese öffnet. Ein vielfältiges Gelände mit unterschiedlichen Biotopen.
Dass hier, wo sich dereinst ein bis ins 18. Jahrhundert betriebener Bauernhof befand, Orchideen wachsen, weist auf ein intaktes Ökosystem hin, »hier ist bestimmt noch nie gedüngt worden«, ist sich Siggi Erdrich sicher. 600 bis 800 Pflanzenarten hat der in Nordrach ein Café betreibende Bäckermeister mit dem Faible für Pflanzen im Kopf. »Mit Wildorchideen beschäftige ich mich schon lang. Meine Frau hat mich darauf gebracht.« Mit der wandert der 67-Jährige viel und gerne, am liebsten durch die ganz besondere Welt von Naturschutzgebieten: »Wir sind schon Gott weiß wo überall gewesen.« Warum seine Begeisterung gerade den Orchideen gilt? »Weil sie schön sind«, schwärmt er von teils bizarren Formen mit bis zu 30 Zentimeter langen Schweifen, wie sie etwa bei Straßburg zu finden sind. »Und weil es interessant ist, wie sie sich entwickeln und vermehren.« Wie beispielsweise die – in Nordrach allerdings nicht vorkommende – Spinnen- oder Bienenragwurz, die dem jeweiligen Insekt ein Weibchen vortäuscht, um es zu Befruchtungszwecken anzulocken.
Dass es auch im Nordracher Hinterland Wildorchideen gibt, darauf hat Nordrachs Förster Heinrich Uhl Siggi Erdrich aufmerksam gemacht. »Als ich das erste Mal hergekommen bin, fingen sie gerade zu blühen an.« Vier Wochen besuchte er seine Schützlinge damals täglich. Bis zu zehn verschiedene Arten dürften es in Nordrach sein, schätzt der Naturliebhaber, mit jeweils eigenen Standortvorlieben von feucht über halbtrocken bis trocken. Das eher unscheinbare Zweiblatt, das mit seinen glockenförmigen Blüten gern am Waldrand im Schatten steht, gehört ebenso dazu wie die zierlich-weiß blühende Waldhyazinthe. Die wächst zwar im Wald ebenso wie an dessen Rand sowie in voller Sonne, benötigt aber unbedingt Trockenrasen.
Vielfalt mit Seltenheitswert
Anfang Juni ist es das lichtbedürftige Knabenkraut in seinen Varianten, das hier oben blüht. Überall in der Wiese leuchten die Violett-, Rosa- und Weißtöne der seltenen Gewächse, die mit den im Handel erhältlichen Zucht-Orchideen »nichts zu tun haben«, wie Siggi Erdrich betont. Und wer Orchideen bislang ausschließlich mit tropischem Dschungel in Verbindung gebracht hat, dem sei gesagt, dass sie sogar in Wüstengebieten zu finden sind.
Interessant sind die Wildlinge für Siggi Erdrich auch, weil viele der Pflanzen erst nach vier oder fünf Jahren blühen. »Abgesehen davon gibt es Jahre, da blühen nur ganz wenige Orchideen, und dann kommt auf einmal ein Jahr, da blühen ganz viele. Aber sie kommen immer aus derselben Knolle«, berichtet der Fachkundige. Entsprechend spannend ist es für ihn jedes Jahr zu sehen »was da kommt.« Heuer war ein sehr gutes Orchideenjahr in Nordrach, woran das aber liegt, könne niemand sagen, meint er und schmunzelt: »An Orchideen haben sich schon viele Wissenschaftler die Zähne ausgebissen.«
Doch nicht nur Orchideen wachsen im Gebirgsklima hier oben neben allerlei sonstig Blühendem. Überall gaukeln Schmetterlinge unterschiedlichster Couleur und sonstige Insekten erzeugen ein vielschichtiges Summen. »Dank der Trockenmauern hier haben wir außerdem viele Amphibien«, berichtet Erdrich. »Auch Schlangen, die Glattnatter hab’ ich schon gesehen – das ist eine Verwandte der Ringelnatter.« Und in dem durch die Wiese plätschernden, bei Hitze jedoch versiegenden Bächlein leben Krebse.
Amphibien und Krebse als Gefährten
Schmale Spuren im Gras stammen von Rehen. Sie fressen Baumschösslinge und sorgen auf diese Weise mit dafür, dass der Wald die längst unter Flora-Fauna-Habitat-Schutz stehende Wiese nicht in Beschlag nimmt. Aus demselben Grund wird das Gelände beweidet, extensiv jedoch und erst dann, wenn die Orchideen verblüht sind und ihre Samen verteilt haben. Fleißig zirpen die Grillen, Heuschrecken springen, sogar die ganz seltene europäische Gebirgsschrecke ist dem Hobbyfotografen hier bereits vor die Linse gekommen. Zigtausende seiner Fotos habe er schon ins Netz gestellt, »um der Welt zu zeigen, wie schön Nordrach ist. Das weiß der Bürgermeister glaub‘ ich gar nicht«, schmunzelt Siggi Erdrich und erzählt von einer internationalen Fangemeinde. »Wegen der Bilder sind schon Leute aus Amerika und Israel extra hierher nach Nordrach gekommen, um sich unsere wunderschöne Natur und Landschaft anzuschauen.«