Ein Leben, das unablässig die eigenen Grenzen zu verschieben suchte: Im Gedenken an Gottfried Zurbrügg (1945 – 2025).
Was, wenn man das Tun eines Menschen würdigen möchte, von dem man von vornherein weiß, dass es den zur Verfügung stehenden Platz sprengt? Man sucht nach einer Schublade. Bei Gottfried Zurbrügg allerdings müsste es eine mit vielen Böden sein, denn er war: Vieles.
Als Realschullehrer war er ein einfühlsamer und hoch engagierter Pädagoge. Als Biologe, Chemiker und überhaupt als Naturwissenschaftler sowie obendrein Hobby-Historiker ein
leidenschaftlicher Forscher. Als Prädikant in der evangelischen Kirche wiederum einer, der sich in einem persönlich empfunden „höheren Auftrag“ als Hirte in den Dienst des Menschen stellte. Als Autor von vor allem historischen Romanen sowie Kurzgeschichten hingegen „koche ich mein eigenes Süppchen“, wie er gerne erzählte, mit dem für ihn so typischen humorvollen Lachen: als ein von „unwahrscheinlicher“ Neugier angetriebener Schriftsteller, den es reizte, Neues herauszufinden.
Gottfried Zurbrügg wurde am 13.09.1945 in Bielefeld geboren, seine Mutter war Studienrätin, der Vater Pfarrer. Hier wuchs er mit fünf Brüdern und einer Schwester auf, besuchte das Max-Planck-Gymnasium. In Münster dann studierte er Biologie und Chemie für das Lehramt, das er von 1974 bis zur Pensionierung im Jahr 2004 ausübte – mit Stationen unter anderem in Stühlingen, in Titisee-Neustadt, in Blumberg. Mit seinen SchülerInnen erarbeitete er eine Vielzahl teils sehr umfangreicher Wettbewerbsarbeiten, die häufig Auszeichnungen gewannen, auch auf Bundesebene. Auch im Bereich „Jugend forscht“ war er mit seinen Schützlingen zugange, ebenso engagiert wie erfolgreich.
Vorreiter
Insbesondere Umweltthemen hatten es dem Bildungsbeauftragten angetan. Schon lange bevor die Politik sich – beispielsweise – dem Thema Mülltrennung widmete, sammelte er mit seinen SchülerInnen Müll. Was ihm einen besonderen Titel einbrachte: Seine Mutter habe immer gewollt, dass aus ihm ein „Dr. phil.“ werde, erzählte er in diesem Zusammenhang gerne. Woraufhin eine gute Bekannte seiner Mutter einmal gesagt habe: „Dr. phil. ist er nicht. Dafür aber Dr. Müll.“ Eine von unzähligen Anekdoten aus seinem nicht einfachen Leben, die Gottfried Zurbrügg hinreißend, mit herzhaft lachender und gleichzeitig schmerzlich-schelmischer Selbstironie weiterzugeben wusste, zum Vergnügen seiner Zuhörer.
Seine letzte Dienststelle als Realschullehrer war das Bildungszentrum Ritter-von-Buss in Zell am Harmersbach. In die ehemalige Reichsstadt kam er im Jahr 1998, wurde hier mit seiner Familie heimisch. Seine Frau Margret – geborene Ackermann – hatte er in der christlichen Jugendarbeit kennengelernt, die Ehe war 1966 geschlossen worden. Aus dieser gingen fünf Kinder hervor, zehn Enkel und ein Urenkel. Nach dem Tod seiner Gattin im November 2017 ging er mit Susanne Mandrella eine Lebensgemeinschaft ein. Regelmäßig pendelte er zwischen dem Raum Pforzheim und Zell hin und her, wo seine Tochter mit zwei Enkelkindern in Unterentersbach lebt.
Horizont erweitern
Wenn sich ihm Gelegenheit für Neues bot, griff er beherzt zu – immer in dem Bestreben, seinen Horizont zu erweitern, Grenzen zu verschieben. Als Lehrer übernahm er daher regelmäßig Sonderaufgaben. So berief man ihn in die Lehrerfortbildung, wo er Kurse und Vorträge zur Umwelterziehung oder der Chemie hielt, von 1989 bis 1995 jeweils in den Herbstferien auch im Raum Dresden. In Schuttertal wiederum agierte er für ein Jahr als kommissarischer Grundschulleiter.
Am meisten für sein weiteres Leben geprägt jedoch hatte ihn nach eigener Aussage ein Einsatz im Jahrgang 1995/ 1996 in einer Sonderschule für Körperbehinderte. Die ihn erschütternden Begegnungen mit den teils schwer entstellten Gesichtern und Körpern, mit Krankheit und Tod, „haben meinen Blick auf das Leben geändert“, resümierte er, „dieses Jahr hat mich gelehrt, den Menschen anders zu sehen, über den äußeren Anblick hinweg in dessen Inneres zu schauen.“ Dass die Schüler ihn häufig „Lehrer Zirkus“ genannt haben, amüsierte er sich – ob seiner Bestrebungen, die Kinder mit Späßen aufzuheitern.
Aufgrund der Bitte des damaligen Arbeitsgebers, über seine Arbeit und Erfahrungen mit den so jungen Gehandicapten ein Tagebuch zu schreiben, entstand 1998 Gottfried Zurbrüggs erstes Buch: „In einem fernen Land.“ Als ein sehr ehrliches und mutiges Buch, das auch vor Kritik nicht zurückschreckte, bezeichnete er es. Zuvor bereits hatte er ein Manuskript vor dem Hintergrund der damals noch neuen Gentechnik verfasst, verbunden mit der Frage: Was ist das Leben, was der Tod? Jahre später sollte das Werk unter dem Titel „Arabidopsis“ erscheinen.
Forschen auch fürs Schreiben
Als Kind schon hatte er Schriftsteller werden wollen. Hatte mit Hingabe Geschichten erfunden und Anekdoten erzählt. Im Jahr 2000 schließlich schloss er sich der Zeller Schreibgruppe an. Sein erster historischer Roman „Wellenreiter“ befasst sich mit der Geschichte der Schwarzwaldflößerei, die beispielhaft an der Entwicklung des Dorfes Nordrach-Kolonie dargestellt wird. Ein zweiter Band „Wellenreiter Westwärts“ handelt von der Badischen Auswanderung im 19. Jahrhundert. Gottfried Zurbrügg wurde Mitglied im Verein der Schwaibacher Flößer und erlangte den Status eines Fachmannes, der Vorträge zum Beispiel in Flößermuseen hielt, auch außerhalb der Ortenau.
Viele weitere Bücher folgten – insgesamt 14 hat Gottfried Zurbrügg verfasst. Bücher, die zu schreiben er oftmals gebeten worden war. Wie jenes über die tragische Lebensgeschichte des Webers Carl-Julius Späth (1838 – 1919), der autodidaktisch die berühmte Rastätter Uhr baute („Eine Uhr für die Ewigkeit“). „Der nackte Mann von Pforzheim“ hingegen handelt von einer Sagengestalt.
In „Von Erde bist du genommen“ verarbeitete er die Lebensgeschichte des Gründers der Zeller Keramik – Josef Anton Burger – und die Entstehungsgeschichte der Fabrik (selbstredend gehörte Gottfried Zurbrügg dem Zeller Rundofen-Förderverein an, führte auch Stadtführungen zu dem Thema durch). Und der Roman „Schwarzwalddavos“? Der erzählt die Geschichte der ersten Tuberkuloseklinik in Nordrach, informiert aber auch sehr genau über die Krankheit und deren Gefahren.
Immer unterwegs
Ob der historischen Hintergründe zu den genannten Werken war stets intensive Recherche und akribische Forschungsarbeit zu leisten. Eines der – wenngleich anstrengenden – Grundprinzipien des Autors, sich in die jeweilige Materie hineinzuarbeiten: Die Dinge anschauen, direkt vor Ort. „Ich bin immer unterwegs“, meinte er dazu, „mit dem Kopf und mit dem Körper.“
Das galt auch für seine dritte Passion, das Prädikantenamt. „In meinem Leben habe ich immer wieder viel Hilfe erfahren und gelernt, auf Gottes Stimme zu hören“, erklärte er dazu. 1998 war es, dass der damalige Zeller Gemeindepfarrer fragte, ob er denn nicht Prädikant
werden wolle. Gottfried Zurbrügg interpretierte dies als Ruf und absolvierte in Freiburg eine entsprechende Ausbildung. Als Prädikant in der evangelischen Kirche war er von 2000 bis 2023 tätig, was ihn viel herumbrachte: nicht nur im Ortenaukreis, sondern auch in der Umgebung Pforzheims sowie im Rahmen der Zehntgemeinschaft Jerichow in Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Dort, in den neuen Bundesländern, übernahm er für jeweils einen Monat im Jahr eine Pfarrstelle, als Urlaubs- oder Krankheitsvertretung.
Und so, wie er als Schreibender ständig neue Grenzen austestete, wurde er auch hier immer wieder an Grenzen gebracht, die es zu verschieben galt. Wie während des kata-strophalen Elbe-Hochwassers, als er sich unvermutet in die Rolle eines Notfallseelsorgers versetzt sah. Generell bestand seine Kirchenarbeit aus Gemeinde- und Seniorennachmittagen, seelsorgerischen Gesprächen – für die ihm seine Berufserfahrung als Lehrer zu Gute kam – und Predigten. In diese wiederum floss seine schriftstellerische Ader ein.
Lebhafte Bilderwelt
Wichtig war ihm, beim Predigen den Menschen das zu vermitteln, was er ob seiner Vorstellungskraft selbst stets sehr bildhaft vor seinem inneren Auge sah. Denn die Bibel war für ihn nicht nur das Wort. Umso mehr freute es ihn, dass ihm oftmals gesagt wurde: „Bei Ihnen wird die Bibel lebendig, man sieht alles geradezu vor sich.“
Irgendwann wurde er gebeten, seine Predigten in einem Band zusammenzustellen. Zunächst zögerte er, weil er kein ausgebildeter Theologe war, auch vom Denken her. Andererseits aber, so sagte er sich, „nutzt die evangelische Kirche bewusst, dass wir Prädikanten eben anders denken und agieren – weil aus dem Alltag, dem Leben heraus.“ Daher stellte er seine Predigttexte dann doch für eine gedruckte Sammlung zur Verfügung.
Darüber hinaus erschien im Brunnenverlag, unter anderem, eine Sammlung von Gebeten mit dem Titel „Gottes Ohren hören anders“. Von seinen Erfahrungen als Prädikant im Osten der Republik berichtete er zum einen in dem Buch „Nest der Störche“ und zum anderen immer wieder in der Schwarzwälder Post, für die er auch sonst unterhaltsame Beiträge schrieb.
Das Schreiben kurzer Geschichten über Dinge, die er persönlich erlebt hat, so sagte er einmal, sei für ihn auch eine Möglichkeit, das Leben festzuhalten. Im Alter von 75 Jahren hatte er sich darüber freuen können, eine Krebsoperation gut überstanden zu haben. Nun, knapp fünf Jahre später, ist Gottfried Zurbrügg verstorben, am 12. April 2025. Die Beisetzung wird am 06. Juni um 14 Uhr in Königsbach erfolgen.