Am 15. Dezember 2020 jährte es sich zum 65. Mal, dass der letzte Oberharmersbacher Kriegsgefangene heimgekehrt ist. Raimund Lehmann vom Amselgrund erlebte in seiner Heimatgemeinde, die er nach 11 Jahren Zwangsarbeit in mehreren russischen Gefangenenlagern erstmals wieder sah, einen überwältigenden Empfang.
Rückblende: Längst ist das »Unternehmen Barbarossa«, begonnen am 22. Juni 1941 als Kreuzzug gegen den Bolschewismus und geführt als rücksichtsloser Vernichtungskrieg gegen den »slawischen Untermenschen«, nur noch geprägt von Abwehrschlachten und Rückzug auf der gesamten Front. Die Stadt Witebsk im heutigen Weißrussland (Belarus), 500 km westlich von Moskau und etwa genauso weit entfernt von der ostpreußischen Reichsgrenze, steht seit Monaten im Feuer. Zweimal bereits, im Januar und im April 1944, schlägt die Heeresgruppe Mitte erfolgreich konzentrierte Angriffe der Roten Armee zurück. Zwei Monate später ist das Schicksal der zur Festung erklärten Stadt besiegelt. Am 23. Juni 1944 schließt sich der Kessel. 35.000 Landser sitzen in der Falle. Ein Ausbruchsversuch vier Tage später endet mit der Vernichtung des deutschen Korps. Zu Tausenden Tote und Vermisste, einer der wenigen Überlebenden ist Raimund Lehmann.
Raimund Lehmann, Jahrgang 1919, wächst in Oberharmersbach im Waldhäusertal mit einem Bruder und einer Schwester auf. Das kleine Hofgut im Amselgrund bietet seiner Familie ein bescheidenes Einkommen. Raimund soll diesen Hof später einmal bewirtschaften. Doch nur wenige Jahre nach der Schulzeit steht der Arbeitsdienst an, anschließend die Einberufung zur Wehrmacht. Bereits im ersten Kriegsjahr versieht er seinen Dienst beim Maschinengewehr-Ersatz-Bataillon 4. Ab 1940 gehört er zum motorisierten Flugabwehr-Ersatz-Bataillon 55 mit Standort in Neckarsulm bzw. Ulm.
Der Krieg verschlägt ihn durch halb Europa. Von der Westfront kommt er an die Ostfront. Zweimal wird er verwundet. Im Juni 1941 liegt er im Feldlazarett Borenal in Russland. Kaum genesen, verletzen Bombensplitter den linken Arm und die linke Brustseite des jüngst zum Gefreiten beförderten Oberharmersbacher. Ein Vierteljahr hat er vom Krieg etwas Ruhe, aber Ende September schickt ihn die Diagnose »kriegsverwendungsfähig« wieder an die Front. Die Heimat sieht er nur bei seinen kurzen Urlaubsaufenthalten, zuletzt heißt es am 23. Dezember 1943 davon wieder Abschied zu nehmen. Im Juni 1944 wird er zum Unteroffizier befördert, wenige Tage später gilt er nach der Katastrophe von Witebsk als vermisst.
Raimund Lehmann ist zusammen mit einem Kameraden von seiner Einheit versprengt. Sie finden den Kontakt zur Truppe nicht mehr, die es nicht mehr gibt. Über acht Wochen irren sie durch eine ihnen völlig unbekannte Gegend, nie wissend, wo die Front verläuft, ständig in der Angst, Partisanen oder regulären Soldaten in die Arme zu laufen. Sie versuchen sich nach Westen durchzuschlagen. Bis fast nach Kaunas im heutigen Litauen schaffen sie es, dann werden sie von der Roten Armee am 17. August 1944 gefangen genommen.
Zuhause bei seinen Eltern war zwischenzeitlich die Vermisstenanzeige eingetroffen. Sie machen sich kaum Hoffnung, ihren Sohn wieder zu sehen, doch anderthalb Jahre später gibt dieser »ein Lebenszeichen«. Kein Hinweis, wo er ist, nur: »Ich habe auf jeden Fall diesen verheerenden Krieg überstanden.« Dann wieder Funkstille, über drei Jahre.
Raimund Lehmann bleibt bis November 1944 bei Kaunas inhaftiert. Dann folgen ein Waldlager und ab Mai 1945 für über drei Jahre das Lager Nr. 7 (Eisenbahnlager) bei Minsk. Für ein weiteres Dreivierteljahr steht Zwangsarbeit im Minsker Traktorenwerk an, dann Haft in Brest. Für einen Monat geht es im Frühjahr 1950 zurück ins Sammellager nach Minsk (Lager Nr. 6) und schließlich für 15 Monate ins dortige Arbeitslager (Lager Nr. 11). Duschino und Perworuralsk sind weitere Stationen seiner Kriegsgefangenschaft, ehe er im November 1953 nach Swerdlowsk (das frühere und heutige Jekaterinburg) an der Ostbabdachung des Urals transportiert wird, weiter weg von der Heimat denn je.
Jahre der quälenden Ungewissheit vergehen, über das russische Rote Kreuz erreichen nur zwei Postkarten den Amselgrund. Erst 1951 darf »Mundi«, wie er in seiner Familie genannt wird, regelmäßig nach Hause schreiben, eine Karte im Monat. In gestochen scharfer Schrift, eng beschrieben und genormt auf der Rückseite einer Postkarte, nimmt er Anteil am Geschehen daheim, gratuliert seiner Mutter zum Muttertag und seinem Vater zum Geburtstag, gibt seiner Schwester Ratschläge, fragt nach der Ernte und den Bienen, sorgt sich um seine betagten Eltern auf dem kleinen Hofgut und will Veränderungen in der Heimat erfahren. Immer wieder keimt die Hoffnung auf, doch irgendwann mal wieder heimzukehren.
Kein Wort steht in den Karten über seinen jeweiligen Aufenthalt, nur vage Andeutungen über seinen Gesundheitszustand. Und er teilt seinen Eltern mit, dass sie ihm Pakete schicken dürfen. Er wünscht sich seine Tabakspfeife und einen Rasierapparat. Er sehnt sich nach frischen Kirschen und Honig. Ansonsten sind die Wünsche eher bescheiden, mal Obst in Dosen oder Kakao, Pfefferminztee und »Schleck«, Zahnbürste und Pasta, wollene Socken, Wäsche, Nähzeug – Gegenstände des Alltags eben. Und er wünscht sich eine Mundharmonika, die er tatsächlich nach über einem Jahr bekommt.
Der sowjetische Staats- und Parteichef Josef Stalin stirbt im März 1953. Im September 1955 reist der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer auf Einladung nach Moskau. Die politischen Erben Stalins im Kreml wollen die Bundesrepublik zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen bewegen. Doch in Moskau gibt es schon eine Botschaft: die der DDR. Und eine weitere Botschaft – eben die der Bundesrepublik – wäre gleichzusetzen mit der Anerkennung der DDR. Die Sowjetunion, die schon im Laufe des Jahres Kriegsgefangene entlassen hat, stoppt diese Aktion und spielt jetzt ihren Trumpf aus: Botschafteraustausch gegen Kriegsgefangene. Raimund Lehmann ist schon Richtung Westen unterwegs, er erlebt in Moshaisk in der Nähe Moskaus bange Tage des Wartens. Er weiß jetzt, dass er und seine rund 10000 Mitgefangenen »Manövriermasse« des Kalten Krieges sind. Adenauer gibt nach, zugunsten der Gefangenen.
Auf dem ersten Transport nach diesem Stopp ist Raimund Lehmann mit dabei. Am 10. Dezember 1955 wird der nunmehr 36-jährige Oberharmersbacher nach 11 Jahren beim Verlassen der Sowjetunion aus der Lagerhaft entlassen. Der Zug fährt Richtung Friedland.
Fünf Tage später erlebt er den wohl glücklichsten Augenblick seines Lebens. Seine Schwester, der Oberharmersbacher Bürgermeister Ludwig Braun und Gemeinderat August Lay holen den Heimkehrer in Offenburg ab. Flaggenschmuck und ein Transparent heißen den letzten Heimkehrer des damaligen Landkreises Wolfach in seiner Heimatgemeinde Oberharmersbach willkommen. Kirchenglocken läuten, als Raimund Lehmann auf dem Rathausplatz eintrifft. Mit Tränen in den Augen erwarten der 76-jährige Vater und die 61-jährige Mutter ihren Sohn, den sie nahezu 12 Jahre nicht mehr gesehen hatten. »Mutter, jetzt hast Du mich wieder« freute sich Raimund Lehmann, als er seine Eltern umarmt.
Der Wolfacher Landrat Hess und Kaplan Loritz von der Pfarrgemeinde St. Gallus gehören ebenso zum Begrüßungskomitee, wie die Miliz- und Trachtenkapelle mit Dirigent August Lehmann und der Kinderchor unter der Leitung von Lehrer Erwin Küderle. Bürgermeister Braun gratuliert zur Heimkehr mit einem Geldbetrag von 500 Mark, Ratschreiber Georg Lehmann überreicht im Namen der Gemeinde einen Geschenkkorb zur »Auffrischung der Gesundheit«. Der Wolfacher Landrat begrüßt den Heimkehrer mit einem Entschädigungsgeld von 5000 Mark.
Raimund Lehmann übernimmt den elterlichen Hof. Er heiratet 1958 Justina Kornmayer. Vier Kinder zählen zur Familie, der älteste Sohn Raimund übernimmt von seinem Vater den Hof. Raimund Lehmann stirbt am 19.10.1990.
Hoher Blutzoll
Während die Gemeinde Oberharmersbach nach dem Ersten Weltkrieges 76 Gefallene und acht Vermisste zu beklagen hatte, waren die Verluste im Zweiten Weltkrieg wesentlich höher. Unter den Einberufenen zählte man schließlich 111 Gefallene und 66 Vermisste. Für nicht wenige Soldaten endete der Zweite Weltkrieg erst Jahre später.
Bis Ende 1947 waren die meisten der über 200 Kriegsgefangenen zurückgekehrt: unterernährt, mit angeschlagener Gesundheit oder verstümmelt, um die besten Jahre ihres Lebens beraubt, gezeichnet durch traumatische Erlebnisse in Krieg und Gefangenschaft.
Im April 1948 waren noch 20 Oberharmersbacher in russischer, zwölf in französischer, zwei in britischer und mindestens fünf in US-amerikanischer Gefangenschaft. Nach und nach endete für diese die Lagerhaft, auch für russische Kriegsgefangene, weil Lager aufgelöst wurden. Für Raimund Lehmann, den letzten Oberharmersbacher Kriegsgefangenen, dauerte die Leidenszeit bis Dezember 1955.