Wer etwas über den wirtschaftlichen Existenzkampf in der Zeit der Inflation und der Weltwirtschaftskrise in einem Schwarzwalddorf erfahren möchte, wird in Andreas Dolls Aufzeichnungen reiches Anschauungsmaterial finden. Das Buch, dessen Erstdruck schnell vergriffen war, ist nun in vierter Auflage – initiiert vom Historischen Verein Nordrach – erhältlich.
Es ist schon erstaunlich, dass ein Soldat an der Front das aktuelle Kampfgeschehen ausblendet und den Kopf frei hat für Erinnerungen an Zuhause. Handelt es sich dabei um eine Flucht aus der kriegerischen Realität oder eine Wertschätzung eines Lebens im Frieden? Wer den 114 Seiten langen Brief von Andreas Doll liest, hat nicht den Eindruck, dass mit einer Idylle das Grauen des Krieges vergessen gemacht werden soll. Soviel verrät er über die momentane Situation: Seine Truppe befindet sich auf dem Rückzug, hat gerade mit Pferdefuhrwerken den vereisten Dnjepr in Richtung Westen überquert.
In Gedanken zu Hause
Die Sehnsucht nach einem verlorenen Krieg die Heimat bald wieder zu sehen, mag den Bleistift geführt haben. Man würde erwarten, dass der Landser sich ausmalt, was er bei einer Rückkehr in die Heimat unternehmen will. Aber von einer Zukunft ist in keiner Zeile zu lesen. Die Gedanken gehen immer nur zurück, als würde der Verfasser ahnen, dass es kein Wiedersehen mit der Familie und dem Heimatort geben wird. Einige Monate zuvor hatte er noch auf Heimaturlaub geweilt. Den Abschied von Frau und Kindern hatte er kurz gehalten, damit er ihm und seinen Angehörigen nicht zu schwer wurde.
Den Rückblick auf sein Leben in Nordrach hat er in der Form eines Briefes gestaltet, gerichtet an seine Frau. Aber immer wieder verlässt er die direkte Anrede und erwähnt seine Frau in der dritten Person. Als ob es nicht nur um eine private Geschichte ginge, sondern um eine Lebensbetrachtung, die als etwas allgemein Gültiges bedacht werden will. Den langen Brief hat Andreas Doll nicht abgeschickt; wer weiß, ob die Zensur ihn nicht kassiert hätte. Als er auf dem Rückzug von den sowjetischen Truppen eingeholt und in ein Lager im Moskauer Bezirk verschleppt wurde, bedeutete eine Lungenentzündung für ihn das Ende.
Glaube im Krieg
Im Lager hatte Andreas Doll den evangelischen Theologen Helmut Gollwitzer kennen gelernt. Die beiden, der Waldarbeiter und der Akademiker, haben sich angefreundet. Die gemeinsame Wertschätzung der Religion scheint dabei eine Rolle gespielt zu haben. Der katholische Dold begann den Tag mit einem Kreuzzeichen, was auf den Protestanten Gollwitzer Eindruck machte. Dold ließ sich im Gegenzug von Gollwitzer für jeden Tag aus den »Losungen« das vorgesehene Bibelwort geben. Aber auch das herzhafte Alemannisch des Schwarzwälders gefiel dem gebürtigen Franken. Nach seiner Rückkehr aus vierjähriger Gefangenschaft überbrachte er den hinterlassenen Brief der Witwe Theresia, geb. Boschert.
Liebe und Jähzorn
Der Brief schildert das Leben in den 1920er und 1930er Jahren. Im Mittelpunkt steht zunächst die zaghafte Annäherung eines jungen Mannes an seine Geliebte, für die er schon lange schwärmt, die er aber nicht deutlich anzusprechen wagt. Doll entschuldigt sich bei seiner Frau für seine anfängliche Schüchternheit. Im Gegensatz dazu habe sie in der späteren Ehe seinen Jähzorn zu spüren bekommen, das tat ihm noch mehr leid. Dieser sei ausgelöst worden, wenn er zwischen seiner Frau und seiner Mutter ohne Erfolg vermitteln wollte. Er tröstet sich, gegen ein »Naturgesetz« angetreten zu sein, wonach sich Schwiegermütter und Schwiegertöchter unter einem Dach nicht vertragen können.
Existenzkampf in den Zeiten der Inflation
Wer etwas über den wirtschaftlichen Existenzkampf in der Zeit der Inflation und der Weltwirtschaftskrise in einem Schwarzwalddorf erfahren möchte, wird in Dolls Aufzeichnungen reiches Anschauungsmaterial finden. Mit 15 Jahren wurde er Waldarbeiter, mit 18 Jahren führte er bereits eine Rotte an, wie sich eine Gruppe von Arbeitern im Forst bis heute nennt. Nach Feierabend stand die Arbeit in der kleinen Landwirtschaft an. Mit Interesse wird der Leser die kleinen technischen Hilfsmittel registrieren, mit denen Doll die Arbeit erleichtert und mühsam in Raten abstottert. Vor allem der Ausbau des kleinen Hauses für eine Familie mit fünf Kindern stellt eine Herausforderung dar, der er sich mit Geschick und Zähigkeit stellt.
Der Tenor des Briefes liegt jedoch in der Wertschätzung für seine Frau, die nicht nur den kinderreichen Haushalt schmeißt, sondern auch die Landwirtschaft versorgt, damit ihr Mann der Tätigkeit im Wald für das Forstamt Gengenbach nachgehen kann. Vor allem bei den Geburten, die immer mit großen Schmerzen und Gefahren für die Gesundheit verbunden sind, zeigt Andreas Doll für seine Frau ein tiefes Mitgefühl.
Vom Historischen Verein Nordrach veröffentlicht
Zum 90. Geburtstag von Theresia Doll haben ihre Enkel den in Sütterlin geschriebenen Brief transkribieren lassen. Im Jahre 2016 machte der Historische Verein Nordrach den Brief für die Öffentlichkeit mit einer Publikation zugänglich. Vorstandsmitglied Rolf Oswald hat das einmalige Dokument mit Anmerkungen und Anhang versehen. Da das Buch schon bald vergriffen war, wurde 2017 in dankenswerter Weise eine Neuauflage gedruckt. Dem menschlich anrührenden und wirtschaftlich interessanten Zeitdokument ist auch über den engeren heimatlichen Rahmen hinaus eine Verbreitung zu wünschen.





