Brennende Häuser, getrennte Familien: Marlis Jahn, geborene Gißler, beschreibt in ihren Aufzeichnungen vom April 1945 eindrucksvoll die letzten Kriegstage in ihrem Heimatort. Der Aufsatz erschien erstmals 1971 in »Die Ortenau«.
Am Mittwoch, dem 18. April
Der Krieg rückt näher, die Lage wird brenzlig! Unsere Soldaten erzählen, in Gengenbach seien schon Franzosen und Marokkaner. Damit ist Biberach Kriegsfront geworden, und alle seine Bewohner versuchen, sich darauf einzustellen: Hausrat wird verlagert, und viele Einwohner, vor allem Frauen und Kinder, ziehen sich auf ihren Stammplatz in Rothmanns Felsenkeller im Kapellen-Berg zurück.
Seit gestern schießt die deutsche schwere Flak als Artillerie über uns hinweg zum Feind hinüber. Wir alle warten ängstlich gespannt auf die von unseren Soldaten angekündigte »Antwort«. Bei unserer Flak – sie ist seit Wochen in Biberach einquartiert – jagen sich die Befehle:
»Aufbruch«, »Abtransport«, »Infanterieeinsatz hier«, »Abmarsch«, »Biberach wird doch verteidigt«, die Leute werden schrecklich durcheinander gebracht.
Die Flak-Ortskommandantur wird von der Infanterie übernommen. Meine Schwester Hedwig kauft den ganzen Vormittag ein und bringt Eßwaren in Mengen nach Hause, über die wir markengewohnten Leute nur so staunen. Seit gestern ist in den Lebensmittelgeschäften Ausverkauf. Und die Läden sind von der aus Kehl hierher verlagerten GroßhandIung noch gut beliefert worden. Man will nicht, dass die Franzosen die ganzen Vorräte kassieren. Jetzt haben wir elf Pfund Edamer Käse im Haus! Endlich essen wir mal wieder wie im tiefsten Frieden Butterbrot und dicke Käsescheiben dazu!
Von »vorne« zurückkommende Soldaten erklären uns die »Lage«. Ein Wachtmeister läßt sich bei Vater die Schuhe nageln. Seit zwei Tagen hat er nichts mehr gegessen. Er kommt aus der Stellung bei Ortenberg. Während er bei uns Kaffee trinkt und Käsebrote mitißt, erzählt er, wie ihn vorne ein junger Leutnant aufgefangen hat. Er teilte ihm Leute zu, völlig unbekannte, und setzte sie ohne Karte in einem ihm absolut fremden Gelände ein. Die 90 Mann hatte er sich in drei Züge eingeteilt. Bis er vom letzten wieder zum ersten kam, war dieser Zug mit seinem Führer nicht mehr da, einfach fortgelaufen. Er schickte einen Melder hinterher. Den hatte er auch nie wieder gesehen. Und als die Franzosen anrückten, lag er mit wenig Männern ohne MG einem ganzen Bataillon gegenüber. Nirgendwo Verstärkung, kein deutscher Panzer weit und breit. Das einzig Mögliche sei gewesen: »Es rette sich, wer kann.« So war das also vorne!
Währenddessen schoß die deutsche Artillerie unentwegt über uns hinweg. Doch plötzlich war in dem Ari-Geheule ein ganz anderer Ton: »Siu – peng!«. Einschlag in unserer Nähe!
Die erste Granate war ins Dorf gegangen! Als erstes wurde Beck Ludwigs Haus getroffen. Dann rissen die Granaten Mordslöcher in die Dachstühle vom Postamt, von Hoog Hafners, von Moser Michels. Auch auf den Straßen hatten Granaten eingeschlagen und wüste Löcher aufgerissen. Und leider gab es auch einen Toten: Rudolf Gießler, ’s Ziegler Seppel 6-jähriger tüchtiger Sohn, wurde von Splittern getroffen und getötet.
Als wir beim Abendessen auf unserer Veranda saßen, erschütterte ein furchtbarer Knall das ganze Dorf. Überall klirrten geborstene Fensterscheiben. Wir rannten in den Hof, um zu sehen, was los war. Aufsteigender, dicker Qualm stand in Richtung Kinzig. Die Holzkinzigbrücke, vom Arbeitsdienst für Kriegszwecke etwa 100 Meter südlich der großen Eisenbrücke gebaut, war gesprengt worden und brannte wie eine leuchtende Fackel.
Hedwig und ich führten in der Dämmerung noch eine Kiste nach Emmerbach. Unser ganzes Dorf war voller Soldaten. Infanterie ging im Gänsemarsch mit geschulterten Panzerfäusten in Stellung. Kein motorisiertes Abwehrmittel war zu sehen.
Am Donnerstag, dem 19. April
Die Artillerie schoß weiter nach Biberach! Gleich beim Frühstück schlug ein Ari-Geschoss mit fürchterlichem Krach in unserer Nähe ein. Das Geschirr aus dem Verandaschrank lag in vielen Scherben auf dem Boden. Zwischen acht und neun Uhr kam noch ein befreundeter Soldat zum letzten »Behüte Euch Gott« zu uns herein. Er war bei der letzten Flak, die Biberach verließ und mußte noch eine Leitung von hier nach Steinach abwickeln.
Gleich danach gab es die zweite ungeheure Detonation an diesem herrlich klaren, sonnigen Frühlingsmorgen: Unsere große Kinzigbrücke, die sich im hohen Eisenkonstruktionsbogen von Ufer zu Ufer spannte, war gesprengt worden. Hitlers Regie hatte zum allerletzten Mal geklappt!
Wieder flog unser Geschirr aus den Schränken, im oberen Stockwerk waren die Zimmer mit Fensterscherben übersät, die Tapeten waren meterbreit mit dem Gips von den Wänden gerissen. Die Artillerie-Einschläge waren so häufig und nah, dass wir beschlossen, in den Keller zu ziehen. Mit Moser Adlerwirts, die auch ihre Zuflucht im großen Keller in der Geroldseckstraße suchten, wollten wir gute Nachbarschaft halten. Sie luden uns zum »Nieni-Brot«, einem gekochten Schinken, ein. Wir aber wollten für beide Familien Mittagessen kochen. Aber es sollte ganz, ganz anders kommen!
Zunächst brachte uns Frau Lehmanns Nichte noch Lebensmittel. Sie weinte und war todunglücklich. Ihr kleines Kind war in Rothmanns Felsenkeller (dem Biberacher Luftschutzbunker) jenseits der gesprengten Kinzigbrücke. Sie wusste sich keinen Rat, wie sie nun zu ihrem Kind kommen könnte.Wir berieten alle Möglichkeiten. Nur um ihr Mut zu machen, gingen wir schließlich mit.
Das Dorf schien ausgestorben. Im Ort pirschten wir uns an den Häusern entlang bis zum Helmensepp, dann im Dauerlauf zum Kinzigdamm. Granitbrocken, Eisenteile und Randsteine waren bis ans Dorf herangeschleudert. Die Dächer der Häuser am Dorfrand waren alle von der
Brückensprengung verschoben. Und die Brücke, unsere große Eisenbrücke, war hüben und drüben abgerissen, das Mittelteil war noch einmal abgeknaxt und lag im Wasser. Wir lotsten die Frau bis zum Brückenwrak und halfen ihr, trockenen Fußes über die geborstenen Brückenteile hinüber zu kommen.
Soldaten schimpften von der Eichhalde zu uns her, wir sollten machen, dass wir nach Hause kämen.
Daheim fingen wir an, das noch heile Eßgeschirr in den Keller zu räumen. Es war kurz nach 11 Uhr, als Flugzeuge sehr tief über uns kreisten. Thurso, unser Hund, klemmte den Schwanz ein und war der erste im Keller, wo er sich sofort in eine Luftschutzdeckung unterm Mostfass zurückzog. Kaum waren wir alle nachgekommen, da prasselte es wie Hagel auf unser Dach. Bordwaffenbeschuss! Geschosse schlugen auf der Ladentreppe auf. Den Feuerschein warf es wie Lohe durchs Kellerfenster. Nach bangen Minuten wurde es endlich wieder ruhig. Vorsichtig schlichen wir uns hinten aus unserem Haus, um zu sehen, was los war. Über dem Unterdorf stand dicker Qualm. Wir fragten uns: »Ob’s bei Berger Xavers brennt?« – Wir schauten nach der andern Seite. Dort war dieselbe schwarze, unheimliche Rauchwand. Wir rannten zur Geroldsecker Straße vor: Qualm und Rauch drangen zwischen Fautz Zimmermanns Dachziegeln hervor, und aus dem Giebel schlugen die Flammen. — Und der »Adler« brannte, und weiter oben brannte es auch, es war nicht zu begreifen. Der Bordwaffenbeschuss mit Brandmunition hatte eine schreckliche Wirkung gehabt.
Ich stürzte in Fautzens Keller. Kerzen brannten auf einem Herz-Jesu-Altärchen, und Frauen und Kinder beteten davor. Ich schrie: »Bei Euch brennts!« – noch niemand hatte es bemerkt. Es waren evakuierte Frauen und Kinder von Freiburg dabei.
Die Kinder schrien, die Frauen jammerten: »Was sollen wir machen?« Die Kinder nahm ich sofort in unseren Keller. Dann fingen wir an, aus dem brennenden Haus herauszuholen, was noch möglich war. Wir packten Lasten, die fast nicht zu zwingen waren, und schleppten Kisten, Koffer, Säcke, Betten hinter unser Haus. Frau Fautz und die Gißler Theres zogen ihr Schwein und ihre Geiß in unseren Garten. (Am Nachmittag bekam die Ziege vor Aufregung noch Junge!) – Wer helfen konnte, half – aber es war fast niemand da.
Auf einmal überkam mich Angst, wir hatten überhaupt nicht geschaut, ob unser Haus nicht auch irgendwo brannte. Doch, Gott sei Dank, hatten die Einschläge auf dem leeren Speicher keine Nahrung gefunden. Mutter begann, Löschwasser für uns zu pumpen. Die Wasserleitung ging nicht, wir hatten schon längere Zeit keinen Strom mehr. Ich füllte das Wasser in leere Waschzuber auf dem Dachboden und in den Schlafzimmern. Es war klar, dass wir uns später sehr gegen einen Übergriff des Feuers würden wehren müssen.
Mein Vater und meine Schwester Elfriede halfen Adlerwirts, das riesige, brennende Haus auszuräumen. Hedwig versuchte bei Bohnert Kaspar zu retten, was noch zu retten war. Vögeles Haus brannte lichterloh, und kein Mensch war da. Auch aus
Deckers Haus schlugen die Flammen. Qualm, Feuer, Rauch, wohin man sah! – Jemand schrie an Adlerwirts Waschhaus: »Vorsicht, hier lagern 50.000 Schuss Munition. Wenn die losgeht, wissen wir nicht, was passiert!« – Unsere Aufregung und die Gefahr für unser Haus wuchsen. Überall waren nur todunglückliche, jammernde Menschen, brüllendes Vieh, ein Heerlager geretteter Habseligkeiten in unserem Hof und Garten. Man hätte nur mit hinausschreien mögen!
Wieder fing ich an, Wasser auf unseren Speicher zu schleppen. Eimer um Eimer. Mutter nahm die Vorhänge im Haus ab und schaffte unsere Betten auf die Veranda. Es war soweit, das Riesenfeuer im »Adler« war nun direkt vis-a-vis. Das Waschhaus brannte lichterloh, sechs Klafter Holz und 1000 – 2000 Reisigwellen lagerten darin. Es gab ein wahres Höllenfeuer und eine Hitze zum Schmoren. – Elfriede und ich standen die nächsten zwei Stunden auf unserem Balkon, pumpten mit der Luftschutzspritze unentwegt Wasser über Schindelgiebel und Vorderfront unseres Hauses. Zuletzt war es nur möglich mit nassen Tüchern vor dem Gesicht und der Luftschutzbrille vor den Augen. Immer wieder mußten wir uns gegenseitig abspritzen, damit wir es überhaupt vor Hitze aushalten konnten. Unsere Nachbarn schleppten nun Wasser für uns, und wir spritzen Dach und Schindelwand, auf denen das Wasser nur noch dampfend aufzischte, immer weiter ab. – Was tat es, dass nach 2 l/2 Stunden unser Haus unbeschreiblich aussah, dass Schleiflack und Linoleum in den Zimmern vor Hitze Blasen warfen, dass riesige Wasserpfützen überall im Hause standen? Wir hatten unsere Heimat gerettet, das war viel wichtiger, und wir dankten Gott dafür.
Mutter hatte zu kochen begonnen, als der schlimmste Ansturm vorüber war, und die Gißler Theres statt ihrer Wasser pumpte. Mit Adlerwirts und Fautzens, dem GIück Sepp, dem Willmann Schorsch und der Mariann haben wir auf der Veranda gegessen. Es war etwa 3 Uhr nachmittags, und wir wußten jetzt, dass auch Buß Erichs Haus, Haas Ludwigs, Wußler Polizeis, Fautz Josefs, Heizmann Augusts, Müller Franzens, Ette Schmieds Haus und das von Jester Engelbert und Fischer Sepp, Sonnenwirts Ökonomie, Jehles Brauerei, die Wirtschaft und Jehles Ökonomie und das alte Wohnhaus brannten. – Niemand war bei uns im Unterdorf zu sehen gewesen, keine Feuerwehr. Nur die nächste Nachbarschaft und wir waren zum Helfen da. Viele Häuser um uns brannten ab, ohne dass ein einziger Mensch dem Feuer gewehrt hätte oder etwas herauszuretten versuchte.
Am Nachmittag suchten die Brandgeschädigten ihr Eigentum aus dem Berg der geretteten Habseligkeiten in unserem Hof. Der Adlerwirt belud einen Wagen mit Möbeln und Betten und fuhr damit in sein Elternhaus am Mühlbach. Als er von dort zurückkam, war der arme Mann am Verzweifeln, denn Moserlandels (das Vaterhaus) stand auch nicht mehr. Es war zur gleichen Zeit mit Maier Georgs, Berger Karls und Hug Straßenwarts Häusern abgebrannt.
Nun halfen wir, den geretteten Hausrat irgendwo und irgendwie unter Dach zu bringen. Wir schleppten Wasser in Adlerwirts Keller, wo man versuchte, drei Riesenfässer Most zu retten. Kein Mensch hatte Zeit, auch nur mit halbem Ohr auf die Artillerie zu hören, die seit dem Vormittag ununterbrochen ins Dorf hereinschoss. Nur ab und zu horchte man auf, wenn das Tacken der MGs sich ganz nahe anhörte. Vereinzelt noch durchkommende deutsche Soldaten berichteten, dass der Feind in Fußbach und Fröschbach sei, in den Wäldern noch weiter vorne, und dass wir’s bald überstanden hätten. Aber wir hatten nicht einmal Zeit Angst zu haben.
Nach 17 Uhr kam Oberarzt Dr. Zehetner noch auf einen Sprung zu uns, um sich zu verabschieden. Er hatte meinen Vater als Patient behandelt und war öfters ein netter Gast bei uns gewesen. Nun wartete er jede Minute auf die Abberufung für sich und sein Revier, zwei Kilometer vom vorrückenden Feind entfernt. (In Steinach soll er schon in Gefangenschaft geraten sein, wird erzählt!)
Das MG-Getacke kam immer näher, man glaubte Panzerketten rasseln zu hören.
Elfriede, Hedwig und ich fuhren immer noch mit dem Handwägele, um das Gerettete unserer obdachlosen Nachbarn vor den anrückenden Franzosen in Sicherheit zu bringen. – Wir waren mit Mosers Liesbeth und Marie am Kinzigdamm, um nach Adlerwirts ausgerissenen Kühen zu suchen, als wir deutlich Panzer anrollen hörten. Es war gerade am Dämmern, und ich schrie: »Jetzt müssen wir heim, schnell heim, ich glaub’, sie kommen!«
Nochmals mußten wir Wasserpumpen, weil Adlerwirts Trümmer erneut aufbrannten. Und auf einmal, als wir am Brunnen hinter unserm Haus verschnaufen mußten: »Still, horcht doch, sie sind schon da! Hinter unserm Garten bei Straßenwarts lärmt es schon französisch!«– Tatsächlich! Es parlierte in lautesten Tönen! Jetzt war es also soweit!
Gleich darauf fuhren französische Panzer am Mühlbach rauf. Als wir durchs Fenster unserer vorderen Haustüre hinausspähten, konnten wir über die heruntergebrannten Häuser auf die Hauptstraße sehen. Im gespenstischen Feuerschein der glutenden Trümmer wurden die Silhouetten der französischen Panzer sichtbar, die auf der B 33 einfuhren und Biberach in Besitz nahmen.