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Nordrach | 1.02.2019

»Ohne Bindung können wir nicht leben«

Emotionale Verfügbarkeit ist für Kinder essentiell – Psychologin sieht große Gefahr im Smartphone-Verhalten junger Eltern

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Zur weiteren Verfolgung des Themas empfahl Randi Speer beispielsweise das Buch »Bindung und emotionale Gewalt«, herausgegeben von Karl Heinz Brisch. Foto: Inka Kleinke-Bialy
von Inka Kleinke-Bialy

Mal in atem­loser Stille lauschten die über 50 Zuhörer, mal erfülte herzhaftes Lachen den großen Saal des Pfarr­heims St. Marien. Mit einem Vortrag zu den Auswirkungen früher Kindheitserfahrungen auf das spätere Leben zog Randi Speer Jung und Alt in den Bann.

Zur weiteren Verfolgung des Themas empfahl Randi Speer beispielsweise das Buch »Bindung und emotionale Gewalt«, herausgegeben von Karl Heinz Brisch.
Die Möglichkeit zu einem Gespräch sowohl mit der engagierten Psychologin als auch untereinander wurde vielfach genutzt.
Als Vertreter der veranstaltenden Nordracher Landfrauen dankte Julia Schablin (v. r.) der Referentin Randi Speer mit einem Präsentkorb, dem schlossen sich Esther Echle und Stefanie Vollmer im Namen des katholischen Bildungswerks an.

»Die Bindungsforschung ist eines der am besten erforschten und – wie ich finde – interessantesten Themen der Entwicklungspsychologie.« Wenn Randi Speer das sagt, merkt man ihr an, wie sehr sie für ihr Anliegen brennt.

Seit zwei Jahren arbeitet die Diplom-Psychologin in der Nordracher Winkelwaldklinik. Zuvor war sie Leiterin einer psychologischen Beratungsstelle, nachdem sie 15 Jahre in einem Kinderheim gearbeitet hatte. »Es gibt, glaube ich, kein Elend auf dieser Welt, das ich in Bezug auf Kinder nicht gesehen habe.«

Um die Auswirkungen, die frühe Kindheitserfahrungen mit engen Bezugspersonen auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen haben – darum geht es der 54-Jährigen bei ihrem Vortrag. »Bindung geht weit über Beziehung hinaus«, verdeutlicht sie: »Eine Beziehung kann beendet werden, eine Bindung nicht.«

Eine spezifische emotionale Bindung an eine Hauptbindungsperson entwickelt der Mensch im Laufe des ersten Lebensjahres. Weil er gemäß John Bowlby (1907 – 1990; britischer Kinderarzt, Psychoanalytiker und Pionier der Bindungsforschung) ein angeborenes Bedürfnis zur Bindung hat. Diese ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person knüpft und das sie über Raum und Zeit miteinander verbindet.«

Nach der Erfüllung physiologischer Bedürfnisse wie Luft zum Atmen, Wärme und Nahrung steht diese emotionale Bindung in der Hierarchie der Grundbedürfnisse gleich an zweiter Stelle, sie sichert das Überleben des Säug­lings. Dass dem so ist, hat eine erschütternde Studie an rumänischen Heimkindern gezeigt, die zwar körperlich versorgt wurden, denen man aber bewusst jegliche emotionale Bindung vorenthielt.

Feinfühligkeit: das »A« und »O«

»Bindung muss aber nicht unbedingt etwas Positives sein«, weiß Speer, »es gibt ja auch pathologische Bindungen. Auf jeden Fall ist die Hauptbindungsperson der »sichere emotionale Hafen« für den Säugling. Sie wird –auch im Erwachsenenalter noch – bei größtem Stress aufgesucht und kann am besten beruhigen.

Nachgeordnete Bindungspersonen können bei kleinerem Stress trösten und werden als Ersatz für die Hauptbindungsperson akzeptiert, wenn diese nicht zur Verfügung steht. Ist das Bindungsbedürfnis momentan gestillt, dann kann der kleine Mensch sich seinem drittwichtigen Bedürfnis widmen: der Erkundung der Umwelt.

Anders gesagt: Nur wenn Kinder keinen Stress haben, sind sie offen dafür, die Welt zu erkunden und dadurch zu lernen. Denn bei innerer Unsicherheit ist ein Kind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, »und kann dann auch schlecht dem Lehrer zuhören«, macht die Psychologin spätere Auswirkungen deutlich.

Signale wahrnehmen!

Zur Hauptbindungsperson wird nicht jene Pflegeperson, welche die meiste Zeit mit dem Säugling verbringt.

Sondern jene, die ihm die größte Feinfühligkeit entgegenbringt. »Bei mir war das der Vater«, so die verheiratete Mutter zweier erwachsener Kinder, »nicht Quantität zählt in dem Fall, sondern Qualität. Was bedeutet, die Signale des Säuglings richtig zu interpretieren und angemessen sowie prompt zu reagieren. Und zwar umso schneller, je jünger ein Kind ist!

Dazu jedoch muss man dessen Signale überhaupt erst einmal wahrnehmen. »Jetzt können Sie sich vorstellen, was heute in der Gesellschaft passiert mit all diesen Müttern und Vätern, die mit ihren Smartphones durch die Gegend laufen – die nehmen ganz, ganz viele Dinge nicht wahr«, alarmiert die Psychologin, »für die Bindung ist das eine Katastrophe!« Kurzum: Es reicht nicht, physisch verfügbar zu sein, »man muss auch emotional verfügbar sein.«

Denn nur große Feinfühligkeit fördert eine sichere Bindungsentwicklung, führt zur Ausbildung von Urvertrauen und einem guten Selbstwertgefühl. Eine Feinfühligkeit »auf vielen Kanälen« wohlgemerkt, also Verhalten, Sprache, Blickkontakt, Berührung und den Lebensrhythmus des Kindes betreffend.

»Feinfühlig zu sein heißt aber nicht, keine Grenzen zu setzen«, betont Randi Speer die ebenfalls bestehende Notwendigkeit, dem Nachwuchs Orientierung zu geben: »Auf ein Kind einzugehen bedeutet also nicht, dass man zu allem Ja und Amen sagt.«

Laut einer weltweiten Studie seien 50 bis 60 Prozent aller Kinder sicher gebunden, sagt sie, wobei Deutschland nur bei etwa 50 Prozent läge. Diese Kinder haben ein breites, solides Fundament bei psychischer Belastung, weisen auch später als Erwachsene bei Stress eine ausbalancierte Emotionsregulierung auf und eine erhöhte psychische Widerstandskraft.

Sichere Bindung = psychische Gesundheit

Unsicher gebundene Kinder dagegen unterliegen mit ihrem schmalen und »weichen« Fundament auch im späteren Leben bei Belastungen einem psychischen Risiko. Bei 20 Prozent dieser Kinder ist die Bindungsqualität eine sogenannt »unsicher-vermeidende« – bedingt durch eine emotional nicht verfüg­bare, zurückweisende Hauptbindungsperson.

Diese Kinder sind gewohnt, nicht wahrgenommen zu werden. Weil sie Angst haben, »das bisschen Nähe, was da ist, zu verlieren«, zeigen sie negative Gefühle wie Kränkungen oder Angst nicht. »Selbst bei innerlich enorm hohem Stresspegel tun sie nach außen cool, auch später als Erwachsene«, weiß Speer. Nicht immer, aber durchaus oft treffe dies auf Leitungspersonen zu. »Weil sie in frühester Kindheit gelernt haben: Ich kann mich auf niemanden verlassen.«

Eine als »unsicher-ambivalent« bezeichnete Bindungsqualität erleben 10 – 15 Prozent aller Kinder. Ihre Hauptbindungsperson ist inkonsistent und unberechenbar: Mal sehr feinfühlig, wenn es ihr gut geht, und das Gegenteil, wenn es ihr schlecht geht.

»Diese Kinder haben gelernt, ganz, ganz viel Emotionen zeigen zu müssen, um wahrgenommen zu werden«, so die Referentin. Sie weinen sehr viel, »was für sie wahnsinnig anstrengend ist«, und lernen nicht, negative Gefühlsüberflutung zu regulieren. Als Erwachsene agieren sie als »Drama-Queen«. Und wenn sie krank sind, brauchen sie »viel Zuwendung und Tamtam.« Im Gegensatz zum unsicher-vermeidenden Bindungstypen: »Wenn man sich um den kümmern will, dann raunzt der einen an: Lass’ mich in Ruhe«, stilisiert Randi Speer die Züge der beiden Grundmuster.

Die Tür ist immer offen

Fünf bis zehn Prozent aller Kinder unterliegen einem desorganisierten Bindungsmuster. Aufgrund der von ihnen erlebten unsicheren Bindungsqualität zeigen sie ein widersprüchliches, nicht voraussagbares und rasch wechselndes Verhalten zwischen Nähesuche, Vermeidung und Ignorieren der Bindungs­person.

Drei bis fünf Prozent aller Kinder schlussendlich leiden aufgrund unsicherer Bindung an einer krankhaften Bindungsstörung.

»Natürlich gibt es viele Zwischenformen unsicherer Bindungsmuster«, erläutert die Psychologin. Und fasst zusammen: »Die Bindung ist das Fundament der Persönlichkeit«, wobei das erste bis dritte Lebensjahr die inten­sivste Zeit des Bindungsaufbaus sei.

Aber: »Die Tür ist immer offen, nichts ist in Stein gemeißelt.« Will heißen: Unter – wohlgemerkt – Stress gemachte »korrigierende Erfahrungen« sind immer möglich, beispielsweise auch in der Ehe oder in einer Therapie.

Zudem betont Randi Speer mit allem Nachdruck: Wenn man selbst traumatisiert ist und dieses Trauma nicht durch Psychotherapie verarbeitet, »dann kann man seinem Kind keine sichere Bindung anbieten, das geht nicht«, ruft sie eindringlich zur Prävention von Bindungsproblemen auf, »es gibt sonst zu viele Dinge im eigenen Verhalten, die nicht kohärent sind.«

Und betreffs der Weitergabe unsicherer Bindungsmuster erklärt sie: »Die Wahrscheinlichkeit der Weitergabe ist sehr hoch. Aber es sind nicht 100 Prozent, die man als Elternteil weitergibt – man lernt ja auch.«

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