War früher wirklich alles besser? Dr. Wolf-D. Geißler hat sich im Stadtarchiv Zell a. H. durch alte Akten gewühlt und legt offen, wie der Alltag in Landwirtschaft, Tierzucht und Veterinärwesen wirklich aussah. „Blut, Dampf und Amtsschimmel: Das Zeller Schlachthaus (1883–1927)“ bildet den Auftakt einer sechsteiligen Serie.
Wer heute durch die Altstadt von Zell am Harmersbach schlendert, ahnt kaum, was sich hier über Jahrzehnte Tag für Tag abspielte: Zwischen dem Gasthaus Bären und einem gelben Wohnhaus stand das städtische Schlachthaus. Auf den ersten Blick unscheinbar – auf den zweiten ein Zentrum des Alltags, das stank, dröhnte und regelmäßig zum Streitfall wurde.
Schlachtverbot für Kinder
In den Akten des Stadtarchivs taucht das Schlachthaus bereits im Dreißigjährigen Krieg auf. Nach seiner Zerstörung wurde es wieder aufgebaut. Eine Ortspolizeiliche Vorschrift vom 6. März 1883 schreibt schließlich vor, dass Großvieh ausschließlich im städtischen Schlachthaus zu töten sei – bei geschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Kinder hatten unter keinen Umständen zuzusehen. Zwei Metzgern war es gestattet, private Schlachtstätten zu betreiben – das waren Ausnahmen.
15 Pfennig pro Tier – und ein wachsendes Problem
Am 26. August 1887 wird eine Schlachthausgebühr eingeführt: 15 Pfennig pro Tier. Doch schon am 19. Januar 1889 melden sich die ersten Stimmen, die nicht nur über den Zustand der Einrichtung klagen, sondern deren Fortbestand grundsätzlich in Frage stellen. Am 17. Dezember 1897 inspiziert der Großherzogliche Bezirkstierarzt Merkle das Zeller Schlachthaus. Was er festhält, lässt einem den Appetit vergehen:
„Der Boden ist mit Steinplatten belegt, die durch Ratten untergraben und hohlgelegt sind. In die freigelegten Fugen sind in die Hohlräume in Zersetzung begriffene tierische Abfallstoffe eingedrungen und verbreiten einen höchst üblen Geruch. Dieser teilt sich im Raum aufgehängtem Fleische mit. Die Wände sind mit 2 m hohem Holzgetäfel versehen, welches mit Ölfarbe überstrichen ist. Blut und Abwasser werden über eine offene steinerne Rinne in den vorbeifließenden Gewerbekanal geleitet (…).“
Körbe am Kanal
Bei Trockenlegung des Kanals wurde damals ein Korb unter das Abflussrohr gehängt, um gröbere Bestandteile aufzufangen. Eine Farce. Rundherum stehen Wohnhäuser, der Luftzug fehlt – die Gerüche bleiben. Nicht nur das städtische Schlachthaus war hygienisch bedenklich. Auch die Metzgereien in Privatbesitz, die in ihren Höfen oder Ställen schlachteten, wiesen grobe Mängel auf.
Metzger August K. etwa tötete das Großvieh im Schlachthaus, das Kleinvieh aber im Hinterhof an einer Holzwand. Blut und Abwasser flossen über offene Rinnen in die Jauche- oder Straßenrinnen. Metzger Jakob F. schlachtete direkt vor seiner Scheune, auch hier wurden die blutigen Abwässer nicht ordentlich entsorgt. Und Metzger Wilhelm V. wollte einen zu niedrigen Raum zugleich als Wurstküche nutzen – aus Sicht der Hygiene eine Zumutung.
Mängel hatten auch alle anderen Metzger aufzuweisen. Ihre Abwässer fließen über undichte Böden meist in Senkgruben, die angeblich öfter entleert werden, oder sie fließen direkt in den Harmersbach.
Eine Stadt im Abwehrmodus
Im Januar 1898 fordert das Großherzogliche Bezirksamt Offenburg den Bau eines neuen Schlachthauses. Zell kontert im Mai: Man wolle renovieren und eine Wasserleitung einbauen. Ein Neubau sei unnötig, die Metzgereien seien ja schließlich „vorschriftsmäßig eingerichtet“. Dass die Beobachtungen des Tierarztes ein anderes Bild zeichnen, interessiert offenbar wenig. Argument Nummer eins: Es fehlt das Geld. Schule und Rathaus seien zu sanieren, Hochwasserschäden würden die Kassen belasten. Das lässt das Bezirksamt allerdings nicht gelten.
„Ein pestartiger Gestank auf der Straße“
Ein Jahr später wird Gendarm Kist nach Zell geschickt. Sein Bericht vom 30. September 1899 ist deutlich: Im Sommer liege nahezu täglich ein „pestartiger Gestank“ vor manchen Metzgereien in der Luft. Blut wird in Kübeln gesammelt, weil Sickergruben fehlen. Ist eine vorhanden, wird sie nicht täglich wie vorgeschrieben geleert. Die Fleischbeschau wird umgangen, viele Tiere gelangen unkontrolliert in den Verkauf. Kist notiert sogar, dass Zell für seine „tuberkulösen Leberlein und Nierlein“ bekannt sei – ein makabrer Ruf.
Beharrlicher Druck aus Offenburg
Das Bezirksamt bleibt hartnäckig. Auch eine eigens eingesetzte Kommission aus Fachleuten kommt zu dem Schluss: Ein neues Schlachthaus ist zwingend erforderlich. Zell zeigt sich einsichtig – auf dem Papier. Ein geeignetes Grundstück ist rasch gefunden, die städtische Ziegelscheuer wird dafür abgerissen. Auch Baupläne liegen bald vor. Geplant ist ein Schlachthaus mit Stallungen und einem Wohnhaus für den Aufseher. Die Kosten: rund 26.000 Mark.
Der Zustand bleibt
Doch in der Praxis geschieht wenig. 1905, also Jahre nach den ersten Gutachten, ist das Projekt keinen Schritt weiter. Zell begründet: Man habe hohe Schulden, wolle die Pläne aber „bald fertigstellen“. Zwei Offenburger Architekten seien beauftragt. Das Bezirksamt lässt nicht locker. Als ein weiteres Jahr vergeht, wird erneut ein Gendarm zur Kontrolle geschickt. Ergebnis: Der Gestank ist geblieben, die Missstände sind bekannt – aber ein Baubeginn nicht in Sicht. Immer wieder gelingt es Zell, neue Aufschübe zu erreichen. Der Bauplatz wird später in Frage gestellt, die Zufahrt ist schwierig, der Anschluss an die Kanalisation problematisch. Die Stadtverwaltung meldet sich, bittet um Fristverlängerung – und verschiebt das Vorhaben weiter.
Eimer für das Unvermeidliche
Ab 1910 beschafft die Stadt erstmals verschließbare Konfiskateimer – speziell für Schlachtabfälle. Geliefert werden sie vom Zeller Blechnermeister Berger zum Stückpreis von 411,50 Mark. Das gängige „Dr. Garthsche Sammelgefäß“ wurde für die örtlichen Gegebenheiten als untauglich erklärt. Die neuen Eimer werden bei Bedarf geleert.
Ein Bauplatz namens Schleifematt – und wieder nichts
Im April 1912 wird die Schleifematt als neuer Standort vorgeschlagen. Das Bezirksamt verlangt Pläne – und erhält keine. Die beauftragte Firma hat keine Erfahrung im Schlachthausbau. Ein zweites Architekturbüro soll nachbessern, doch die ursprünglichen Unterlagen werden nicht herausgegeben. Der Bauplatz liegt dazu noch ungünstig – oberhalb der Stadt. Der Anschluss an Wasser und Kanal scheitert. Also sucht man unterhalb der Stadt weiter. Wieder vergeht ein Jahr. Wieder stellt Zell fest, dass man wegen schlechter Finanzlage das Problem verschieben müsse.
Moderne Technik, alte Probleme
Es spricht sich herum: In Zell soll gebaut werden! Anbieter aus ganz Deutschland bieten Ausstattung an. Darunter auch eine Berliner Firma, die einen „elektrischen Kartenschalterdrucker“ vorschlägt – zur effizienten Verwaltung von Schlachtkarten. Die Technik ist ihrer Zeit voraus. Zell winkt ab: zu teuer, zu früh, zu viel. So entgeht der Stadt ein möglicher Modernisierungsschub – immerhin wäre Bürokratieabbau schon damals möglich gewesen.
Krieg als letzter Rettungsanker?
Ab dem 29. März 1913 mahnt der Bezirkstierarzt erneut. Die Fleischbeschauer sollen strenger kontrollieren – doch es gibt zahlreiche Verstöße. Fleisch wird teils vor Abschluss der amtlichen Beschau verkauft. Am 29. März 1914 legt der Tierarzt Dr. Kohlhepp nach. Sein Bericht beschreibt das Schlachthaus als „vollständig ungenügend“ und „viel weniger vorschriftsmäßig“. Es liegt an einer vielbegangenen Straße, die Wände sind teils ungestrichen, eine Wasserleitung fehlt. Die Metzger müssen das Wasser zum Reinigen aus dem Bach schöpfen – derselbe Bach, in den Abfälle und Unrat geworfen werden. Auch in den Metzgereien sieht es nicht besser aus: Einer schlachtet neben dem Misthaufen, ein anderer nutzt eine übervolle Senkgrube, wieder andere arbeiten in schmutzigen Höfen oder gar neben der Abortgrube. Einer betreibt zusätzlich ein Gewürzgeschäft. Dr. Kohlhepp schreibt trocken: „Es gehört ein guter Appetit dazu, von diesem Metzger etwas zu essen.“
Letzte Hoffnung vom Weltkrieg begraben
Der Gemeinderat beschließt am 10. April, alles „einstweilen zurückzustellen“. Die finanzielle Lage sei ungünstig. Am 1. August 1914 beginnt der Erste Weltkrieg – und stoppt das Vorhaben endgültig. 1920 wird immerhin die Schlachthausgebühr erhöht. 1927 fordert das Reich eine Zählung öffentlicher Schlachthäuser. Zell hat keins.
Verdrängt und schließlich überflüssig
Über 40 Jahre lang schiebt Zell die Verantwortung vor sich her. Immer wieder warnen Tierärzte, fordern Fachleute, mahnt das Bezirksamt. Doch die Verwaltung reagiert ausweichend. Keine Entscheidung, kein Bau, keine Veränderung. Das Schlachthaus bleibt Symbol für den Umgang mit öffentlicher Verantwortung: Wo der politische Wille fehlt, helfen weder Gutachten noch Gestank.
Bis heute gibt es kein funktionsfähiges öffentliches Schlachthaus in Zell. Es ist auch nicht mehr nötig, denn die Zahl der Schlachtungen ist zurückgegangen, moderne Metzgereien arbeiten nach hygienischen Standards. Das Problem hat sich – wie so viele – von selbst gelöst. Damals aber war es ein Beispiel für fahrlässigen Umgang mit öffentlicher Gesundheit. Und für den langen Atem einer Verwaltung, die auf Zeit spielte.
Unser Gastautor:
Dr. Wolf-Dieter Geißler: Vom Tierarzt zum Geschichtsdetektiv
Geboren 1937 in Dresden, führte Dr. Geißlers Weg über Frauenstein und die Schweiz nach Hausach, wo er 1958 das Abitur ablegte.
Nach dem Studium der Veterinärmedizin in München kam er 1964 nach Zell am Harmersbach – und
blieb. Von 1972 bis 1998 führte er hier eine eigene Tierarztpraxis und betreute die Tiere in Zell,
Biberach, Nordrach und Oberharmersbach, stets unterstützt von seiner Frau Renate, einer
ausgebildeten OP-Schwester.
Als praktizierender Tierarzt erlebte er den Wandel von der bäuerlichen Mischwirtscha zur
modernen Spezialisierung, von Tierseuchen bis zur flächendeckenden Impfung. Dieses Wissen
macht ihn zum idealen Chronisten:
Er liest historische Akten nicht nur, er versteht sie fachlich. Im Ruhestand wurde der Vater zweier Kinder zum engagierten Forscher im Stadtarchiv Zell. Besonders am Herzen liegt ihm die Partnerscha zwischen Zell und seiner früheren Heimat Frauenstein.
In der sechsteiligen Serie „Früher war alles besser! Oder?“ bringt er längst vergessene Geschichten
aus Landwirtscha , Tierzucht und Veterinärwesen ans Licht – fundiert, mit Augenzwinkern erzählt und immer nah dran an Mensch, Tier und Zeitgeschehen. Grundlage seiner Texte sind Originalquellen aus dem Stadtarchiv Zell.
Quelle
Stadtarchiv Zell am Harmersbach
VII. Landwirtschaft, Tierzucht, Veterinärwesen
Akten: Tierzucht Veterinärwesen № 4; 13 (1883-1927)