»Täter werden Orte meiden, wo Schulungen gegen Missbrauch erfolgen und die Menschen sensibilisiert sind.« Dies sei wissenschaftlich bewiesen, betonten Oberharmersbachs Gemeindereferentin Judith Müller sowie (die nicht mit ihr verwandte) Simone Müller als zweite Präventionsfachkraft der Seelsorgeeinheit (SE) Zell.





Im katholischen Pfarrheim Zell führten sie am vergangenen Dienstagabend gemeinsam durch eine über zweistündige Schutzschulung im Rahmen eines unter dem Dach des Erzbistums Freiburg neu ausgearbeiteten Mantelschutzkonzepts. Dies soll Vertrauen in die Kirchengemeinde als sicheren Ort nicht nur für Kinder und Jugendliche sondern auch für Erwachsene aller Altersstufen sichern sowie potentielle Täter abschrecken.
Solche Schulungen sollen fortan regelmäßig für alle stattfinden, die haupt- wie ehrenamtlich in der katholischen Kirchengemeinde Zell mit ihren fünf Pfarreien tätig sind. Damit sie Handlungssicherheit erlangen bei einem Thema, das nicht nur sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt beinhaltet, sondern das bereits bei Grenzverletzungen beginnt. Bei unangemessenem Verhalten oder unangemessenem Körperkontakt also – durchaus auch unabsichtlich oder aus fachlicher Unzulänglichkeit heraus entstanden. Wobei als Maßstab für Grenzverletzungen subjektive Faktoren beileibe nicht weniger gelten als objektive.
»Achte auf dein Gefühl«, lautete daher eine der wichtigsten Schulungs-Botschaften: »Wir müssen Grenzen bei uns und anderen sensibel wahrnehmen und achten« – das betrifft unbedingt auch den Umgang mit und die Nutzung von Medien und sozialen Netzwerken.
Des Weiteren gilt es selbstverständlich, bei Grenzverletzungen und Übergriffen einzugreifen, Rechte für Mädchen und Jungen einzuführen sowie zuzuhören und – mit gebotener Ruhe – zu handeln, wenn sich jemand anvertraut. Hierfür stellten die Referentinnen den rund 20 aktiv eingebundenen Schulungsteilnehmern einen Handlungsleitfaden zur Verfügung – auch für den Fall eines Übergriffverdachts.
Zudem besteht jederzeit die Möglichkeit sich Hilfe zu holen, beispielsweise bei den Vertrauenspersonen der kirchlichen Jugendarbeit unter www.vertrauenspersonen.kja-freiburg.de oder bei einer Fachberatungsstelle.
Subjektives Empfinden ein berechtigter Maßstab
Wie unterschiedlich die Wahrnehmung solcher Grenzen subjektiv ausgeprägt sein kann, zeigte ein simpler Feldversuch mit den Schulungsteilnehmern.
Situation »A«: Sie werden von Ihrem Chef vor versammelter Mannschaft lautstark heruntergeputzt“– ein absolutes No-Go für sämtliche Teilnehmer.
Situation »B«: »Feierabend, Sie stehen eingequetscht im Zug, jemand drückt sich von hinten ganz nah an Sie heran.« Hier zeigen die Schulungsteilnehmer unterschiedliche Reaktionen: Einige zeigen die rote, andere die grüne Karte und wieder andere sind unentschieden. Das Fazit: Jeder Mensch hat unterschiedliche Grenzen – wichtig ist, auch Kinder dafür zu sensibilisieren. Dafür, dass sie auf ihr Empfinden für das, was sich für sie falsch anfühlt, hören dürfen und sollen.
Ein sexueller Übergriff wiederum besteht beispielsweise darin, eine Grenzverletzung nicht zu korrigieren, sondern sie gezielt zu wiederholen. Ein Kind also, das nicht umarmt werden will, nochmals und nochmals zu umarmen. Solche Übergriffe sind Ausdruck unzureichenden Respekts oder grundlegender fachlicher Mängel, die Reaktionen der Betroffenen werden missachtet oder übergangen.
Sexuelle Gewalt schließlich ist (nach Ursula Enders) immer dann gegeben, wenn Kinder »von einem Erwachsenen oder älteren Jugendlichen als Objekt der eigenen sexuellen Bedürfnisse benutzt werden. Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer kognitiven und emotionalen Entwicklung nicht in der Lage, sexuellen Beziehungen zu Erwachsenen und älteren Jugendlichen wissentlich zuzustimmen.« Fast immer nutzen Täter ein Macht- und Abhängigkeitsverhältnis aus. Doch auch wenn ein Mädchen oder Junge sich aktiv beteiligt:
Die Verantwortung für den sexuellen Missbrauch liegt immer beim Erwachsenen.
Verlässliche Opferzahlen zu nennen ist aufgrund der extrem hohen Dunkelziffer mehr als schwierig. Generell Gewalterfahrungen machten gemäß einer Studie aus dem Jahre 1997 rund 18 Prozent der Mädchen und zwischen zwei und sieben Prozent der Jungen.
Eine Repräsentativ-Befragung im Jahr 2011 ergab, dass 6,4 Prozent der Mädchen und 1,3 Prozent der befragten Jungen sexuellen Missbrauch erfahren haben. Mit dem Vorbehalt jedoch, dass solch eine Befragung die tatsächlichen Zahlen kaum widerspiegeln dürfte: Setzen Täter doch alles daran, die Kinder durch psychischen Druck zum Schweigen zu bringen – wie durch die Androhung von Liebesentzug.
Eine Verdoppelung wenn nicht gar Verdreifachung der tatsächlichen Zahlen befürchtet die in der Arbeit mit Kindern vielfach erfahrene Judith Müller aufgrund des vergangenen Corona-Lockdowns.
Entsprechend erschreckend eine Studie, bei der 561 befragte Täter mehr als 17 000 Opfer hinterlassen haben. Aus allen Alters-, Bildungs- und Gesellschaftsschichten kommen die Täter (85 bis 90 % sind männlich), ein Drittel aller Taten werden von unter 21-Jährigen begangen. Und: Zwei Drittel der Täter kennen ihre Opfer!
Täter-Strategien kennen!
Häufig wird die Tat langfristig vorbereitet, wobei die Vorbereitungsschritte vergleichbar sind. Daraus folgt: Wer die Strategien kennt, kann TäterInnen schneller erkennen.
Diese entscheiden sich bewusst für eine ehrenamtliche Tätigkeit und/ oder eine bestimmte Einrichtung. Sie wählen ihre Opfer gezielt aus – energischere Kinder vielleicht weniger als solche, die sich eher »kleinhalten« lassen. Die Täter inszenieren Gelegenheiten und Testrituale, Vernebeln die Wahrnehmung des Opfers und des Umfeldes, brechen den Widerstand des Opfers, sichern sich dessen Schweigen, vertuschen die eigenen Taten.
Für die Opfer bedeutet dies alles eine enorm hohe Belastung, verbunden mit Angst, Ekel-, Scham, Schuld- und ambivalenten Gefühlen. Als mögliche Folgen sind bei Kindern unter anderem distanzloses und/ oder sexualisiertes Verhalten zu beobachten, plötzlich starke Verhaltensänderungen, Ängste. Bei Jugendlichen Selbstverletzung, Ess-Störung, Sucht, sexualisiertes und/ oder zwanghaftes Verhalten.
Ein im Rahmen des Man-telschutzkonzepts erstellter Handlungsleitfaden soll die Kirche jedoch zu einem sicheren Ort machen. Dazu gehört eine in jeder Pfarrei der SE Zell erfolgte individuelle Risikoanalyse, bei der beispielsweise die Räumlichkeiten darauf überprüft werden, ob sie Tätern ein leichtes Spiel ermöglichen. »Die Folge kann unter anderem sein, die Schlüssel von Räumen einzusammeln, die von innen abschließbar sind, oder Türen zu entfernen«, war Erfahrungsberichten zu entnehmen.
Hinzu kommt die Einhaltung institutioneller Standards. So muss ein definierter, mit Kindern und Jugendlichen arbeitender Personenkreis ein erweitertes Führungszeugnis samt Selbstauskunftserklärung vorlegen, und alle MitarbeiterInnen der SE Zell unterschreiben eine Erklärung zum grenzachtenden Umgang gemäß dem Verhaltenskodex der Präventionsordnung der Erzdiözese Freiburg.