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Zell am Harmersbach | 27.03.2020

Dr. Christiane Fischer über ethische Aspekte des Umgangs mit der Corona-Krise:

»Die Kollateralschäden sind erheblich«

Große Sorge um Bürger- und Freiheitsrechte – Soziale Folgen werden unterschätzt

Foto:
Dr. Christiane Fischer ist Mitglied im deutschen Ethikrat. Sie appelliert neben den gesundheitlichen Gefahren des Corona- Virus auch die gesellschaftlichen und sozialen Folgen von Maßnahmen im Blick zu behalten. Foto: privat
von Susanne Vollrath

Der Deutsche Ethikrat berät die Bundesregierung in ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben. Dr. Christiane Fischer gehört bis Mitte April dem Gremium an. Susanne Vollrath hat mit ihr über ethische Aspekte und die nicht unerheblichen »Kollateralschäden« der aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie gesprochen.

Frau Fischer, es ist noch nicht lange her, als wir uns über Ihr Engagement im Ethikrat unterhalten hatten. Seit unserem letzten Gespräch überschlagen sich die Ereignisse – politisch, medizinisch, gesellschaftlich, rechtlich. Wie ist Ihr Blick auf die aktuelle Situation?

Das Virus stellt ohne Frage eine gesundheitliche Gefahr dar. Ich denke aber auch, dass die Bürger- und Freiheitsrechte gerade ebenfalls sehr gefährdet sind.

 

Wie meinen Sie das?

Die Frage ist, ob die jetzigen Maßnahmen angemessen sind. Freiheitsrechte wie die Versammlungsfreiheit, die Berufsfreiheit oder die Religionsfreiheit sind beschnitten. Der wirtschaftliche Schaden ist immens. Ich sehe das »durchregieren«, das jetzt praktiziert wird, mit Sorge und dazu kommt, dass sich viele soziale Probleme plötzlich verdichten. Was bedeutet es zum Beispiel für Menschen, die mit häuslicher Gewalt konfrontiert sind? Von heute auf morgen müssen sie plötzlich rund um die Uhr mit einem gewalttätigen Partner zusammen sein.

 

Die Situation hat viele Aspekte. Wie könnte man es anders machen?

Man müsste die Faktoren anders gegeneinander abwägen. In Schweden verfolgt man beispielsweise die Strategie, die Alten und besonders Gefährdeten zu schützen und das Virus ansonsten durch die Bevölkerung gehen zu lassen.

 

Genau das will die Politik offensichtlich vermeiden. Sie befürchtet eine Überlastung des Gesundheitssystems.

Keiner weiß, wie es sich weiterentwickelt. Wir wissen nicht die aktuellen Zahlen der Infizierten. Die Prävalenz ist nicht bekannt (Anm. d. Red.: Prävalenz ist die Rate der zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitabschnitt an einer bestimmten Krankheit Erkrankten im Vergleich zur Zahl der Untersuchten). Dafür müsste man repräsentative Testungen machen. Die wurden noch nicht durchgeführt. Außerdem müssen wir feststellen, wer schon immun ist. Zur Zeit gibt es keinen Impfstoff, keine Behandlung. Wenn wir nicht ewig mit den Beschränkungen leben wollen, brauchen wir die Her­denimmunität.

 

Ein riskanter Ritt, schließlich sind weltweit schon tausende Menschen an Covid 19 gestorben.

Dass das Virus gefährlich ist, bestreitet keiner. Aber wir wissen nicht wie gefährlich. Wir wissen nicht, ob die Menschen AM Corona-Virus oder MIT dem Corona-Virus verstorben sind. Jeden Tag sterben in Deutschland 2.500 Menschen. Wie viel mehr es wirklich sind, kann man nicht sagen.

 

Darauf zu warten hinterher mehr zu wissen, scheint für die breite Öffentlichkeit keine Option zu sein. Man kennt die Bilder aus Italien.

Wenn eine Erkrankung solche Effekte hat, wie es in Italien passiert, ist es schlimm. Aber: Deutschland hat ein deutlich besseres Gesundheitssystem, deutlich mehr Intensivbetten und eine andere Bevölkerungsstruktur. Zudem wird mehr getestet. Der Spagat ist nicht einfach. Die immer höhere Zahl an Infektionen führt offensichtlich zu immer mehr Maßnahmen. Dabei gerät in den Hintergrund, dass immer mehr Maßnahmen auch immer mehr Kollateralschäden mit sich bringen – wirtschaftlich und sozial, aber auch durch ein Demokratiedefizit. Die Maßnahmen verursachen dauerhafte Schäden.

 

Ein echtes Dilemma, in dem die Welt da gerade steckt.

Genau so ist es. Auf der einen Seite spricht einiges für die Maßnahmen. Auf der anderen Seite stehen die angesprochenen, nicht unerheblichen Kollateralschäden. Ich plädiere noch einmal dafür, den Blick nach Schweden zu werfen. Dort sind die Risikogruppen aufgerufen sich selbst zu isolieren und die Gesellschaft gefordert zu helfen.

 

Sind die momentanen politischen Entscheidungen also von Aktionismus geprägt?

Die Frage ist doch, ob geholfen ist, wenn sich alle isolieren sollen. Lange werden es vor allem Familien nicht in einer vielleicht eh schon viel zu kleinen Wohnung aushalten. Kinder müssen raus, müssen sich bewegen. Die Familien leiden und auch für die kleinen Unternehmen ist die Lage alles andere als einfach. Vieles wurde sehr schnell entschieden und nicht breit diskutiert. Vereinzelt wurden Vertreter aus dem Ethikrat von der Presse um Stellungnahmen und Einschätzungen gebeten. Es wäre auch eine gute Sache gewesen, wenn die Politik den Ethikrat frühzeitig angerufen hätte.

 

Was kann jeder selbst tun, um die soziale Situation zu stabilisieren?

Eine große Gefahr liegt in der Vereinsamung von Menschen. Gut ist es, den Nachbarn zu helfen und trotz physischer Distanz mit anderen in Kontakt zu bleiben. Anrufen, anrufen, anrufen!

 

Sie sprachen vorhin davon, dass sie mit Sorge auf die Kollateralschäden der Krise blicken. Auch in demokratischer Hinsicht?

Das Infektionsschutzgesetz soll so verschärft werden, dass das Parlament praktisch nichts mehr zu sagen hat, wenn von der Bundesregierung eine »epidemische Lage von nationaler Tragweite« erklärt wird. Das Bundesgesundheitsministerium könnte dann Untersuchungen anordnen, persönliche Daten einfordern. Mediziner könnten zwangsverpflichtet werden, das Ministerium könnte Medikamente beschlagnahmen, Preise festlegen und vieles mehr. Viele Aspekte finde ich bedenklich. Bürger- und Freiheitsrechte müssen gewahrt bleiben.

 

Einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte im Ethikrat war das Menschenrecht auf Gesundheit. Haben Sie Hoffnung, dass in dieser weltweiten Krise sich in dieser Hinsicht etwas bewegt?

Ich hoffe, dass ein Impfstoff – wenn er entwickelt ist – für alle Menschen verfügbar gemacht wird. Ich war auch froh, dass Deutschland sich bereit erklärt hat, schwerstkranke Patienten aus den Nachbarländern zu übernehmen. Es besteht die ethische Verpflichtung mit Intensivbetten zu helfen, wenn es möglich ist. Ob sich langfristig und international wirklich etwas ändert? Ich weiß es nicht. In Ländern wie Indien oder auf dem afrikanischen Kontinent wird die Epidemie eine echte Katastrophe werden. In unserem Land werden wir sicherlich vor vielen neuen Herausforderungen stehen. Die Schüler, die viel Lernzeit verloren haben, viele neue Arbeitslose – es wird sich einiges verschieben.

 

Sie haben zahlreiche Aspekte angesprochen. Könnten Sie Ihre Kernpunkte noch einmal kurz zusammenfassen?

Es ist wichtig zu einer gewissen Grundimmunität in der Bevölkerung zu kommen. Ich befürworte eine repräsentative Untersuchung der Zahl derer, die schon mit dem Virus im Kontakt waren. Erst wenn man weiß, welcher Anteil von Menschen das Virus hat und bereits hatte, kann man sagen, wie schnell es sich wirklich verbreitet und in der Folge zu verhältnismäßigen Maßnahmen kommen. Der Impfstoff wird dringend benötigt. Ich hoffe, dass er allen Menschen zur Verfügung steht.

 

Zum Abschluss noch eine private Frage: Wie sieht die Corona-Zeit für Sie persönlich aus?

Ich bin momentan im Home-Office und mein Terminkalender ist für die nächsten Wochen so leer wie selten zuvor. Vorträge, Veranstaltungen – alles erst mal aufgeschoben.

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Schlagworte:
Corona-Virus

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