»Hurra, Hurra, 100 Jahre Frauenwahlrecht!« – riefen Renate Oswald und Martina Wetzel während der Zeller AWO-Jubiläumsfeier durch den großen Saal des Kultur- und Vereinszentrums. Dabei ließen sie die Gesichter zweier bedeutender AWO-Frauen über ihren Köpfen tanzen, um sie gleich darauf auf der Bühne vorzustellen.
Vor 100 Jahren wurde der Gesamtverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gegründet – nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.
»Die AWO bekennt sich zu den Grundsätzen der Demokratie, der Humanität und des Sozialismus. Ihre Aufgabe besteht darin, hilfsbedürftige Menschen ohne Ansehen der Person, der politischen, religiösen oder rassischen Zugehörigkeit zu betreuen« – in der Gründungssatzung stand, was heutzutage aktueller denn je erscheint.
Vor 70 Jahren dann entstand der Zeller Ortsverband: Gleichfalls in einer Zeit, in der die Menschen litten, diesmal unter den langanhaltend fatalen Folgen des Zweiten Weltkriegs.
Dieses Doppeljubiläum wurde im Anschluss an die jüngste Mitgliederversammlung der Zeller AWO (wir berichteten) gebührend gefeiert. Anlässlich dieser Feier betonte der Zeller AWO-Vorsitzende Heinz Engelhardt: »Ohne die Frauen gäbe es die AWO gar nicht«.
590 000 Mitgliedern zählt der Verband der freien Wohlfahrtspflege heutzutage, unterstützt von einer Vielzahl haupt- und ehrenamtlicher Mitglieder und Helfer. Dass es viele starke Frauen waren, die die AWO aus der Taufe gehoben haben, unterstrichen auch die beiden Zeller Vorstandsmitglieder Renate Oswald und Martina Wetzel.
Als nicht minder starke Vertreterinnen ihres Geschlechts begaben sie sich anlässlich der Jubiläumsfeier auf die Bühne. Jeweils angetan mit einer Schärpe in der Farbe lila – einer der Erkennungsfarben der Suffragetten: Lila stand für Würde, neben dem Grün der Hoffnung und neben einem Weiß als Symbol für Ehrenhaftigkeit.
Die AWO-Gründerin Marie Juchacz
Marie Juchacz war eine jener Suffragetten, war eine jener internationalen Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht. 1879 geboren – in einer Zeit also, in der Frauen nichts zu sagen hatten, »und in der es keiner Frau eingefallen wäre, politisch aktiv zu sein«, erklärt Martina Wetzel dem Publikum. Sie hat sich mit einem Plakat der Art »bewaffnet«, wie sie kämpferische Frauen um die damalige Jahrhundertwende bei Demonstrationen zu tragen pflegten. Dieses Plakat zeigt das Konterfei der Frauenrechtlerin, Sozialreformerin und Sozialdemokratin Marie Juchacz.
Mit dem Glück gesegnet, von Vater und Bruder bei politischen Diskussionen sowohl einbezogen als auch ernst genommen zu werden, kam sie durch eben diese beiden in die SPD. Das Elend der Arbeiterfamilien hatte sie als Fabrikarbeiterin kennengelernt: »Die Arbeit an den Maschinen mit wenig Lohn, der raue Ton und die permanente Angst vor Entlassung trieben Marie dazu, sich nach einer anderen Arbeit umzusehen«, erzählt Martina Wetzel, »sie fing in der Krankenpflege an – ebenso hart, aber erfüllender, weil sie helfen konnte.«
Helfen auch wollte sie mit ihrem politischen Engagement, um die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen zu verbessern. Denn die wurden nicht nur schlechter bezahlt als Männer, sondern hatten zudem die Verantwortung für Haushalt und Kinder. Doch wenn sich für die Familien wirklich etwas zum Guten ändern sollte, mussten Frauen mitbestimmen dürfen.
Nach der in Deutschland anno 1918 erfolgten Einführung des passiven Wahlrechts hielt die Reichtagsabgeordnete Juchacz als erste Frau eine Rede in der Weimarer Nationalversammlung. Mit jenem legendären, weil für damalige Zeiten spektakulär-selbstbewussten Anfang, der da lautete: »Meine sehr geehrten Herren und Damen …«
»Doch es dauerte ihr zu lange, bis die politischen Veränderungen bei den armen Familien angekommen wären«, berichtet Martina Wetzel: Noch war Wohlfahrt ein Zeitvertreib wohlhabender Bürgerfrauen, die eher nach ihren eigenen Vorlieben handelten denn nach dem, »was die Leute benötigten.« Wobei man – gemeinhin – individuelle Schuld und Minderwertigkeit als Ursache für Armut betrachtete.
Wohlfahrt heißt nicht »Almosenvergabe«
Indem Juchacz die AWO gründete, sollte Wohlfahrt nun aus den Kreisen der Arbeiter kommen. Professionelle Wohlfahrt, von nun gut ausgebildeten Fürsorgern geleistet. Eine Wohlfahrt, die die Umsorgten nicht mehr als Almosenempfänger abstempelte. Da regelmäßige Vereinsbeiträge für die Arbeiter eine zu große Belastung bedeutet hätten, war die AWO bis zur Auflösung 1933 durch die Nationalsozialisten ein Ausschuss der SPD. »Als gemeinnütziger Verein wurde die AWO erst nach dem zweiten Weltkrieg gegründet«, gibt Martina Wetzel nun ihrer Bühnenpartnerin Renate Oswald das Stichwort.
Die wiederum ist mit einem Foto-Plakat von Gengenbachs Ehrenbürgerin Marta Schanzenbach (1907 – 1997) »bewaffnet«. »In der neu gegründeten Bundesrepublik war sie eine Frau der ersten Stunde«, so Renate Oswald, »denn Marta wurde 1949 als SPD-Abgeordnete in den ersten Bundestag gewählt.« Dieses Mandat nahm sie bis 1972 wahr. Setzte sich in dieser Zeit beispielsweise für die Gleichberechtigung der Frau ein: In Deutschland immerhin erst seit 1977 darf das Weib ohne Erlaubnis des erlauchten Gatten berufstätig sein.
Marta Schanzenbach: von Helmut Schmidt geschätzt
Herausragend auch Marta Schanzenbachs Rolle in der AWO, die von ihr in den Nachkriegsjahren in Südbaden wiederaufgebaut wurde. Lange Zeit übte sie hier das Amt der Bezirksvorsitzenden aus. Was aber motivierte sie zu all den Kraftakten? Renate Oswald skizziert den Lebenshintergrund der Ausnahmefrau.
Einer Frau, die mit sechs Geschwistern in Armut aufgewachsen war. Der Vater ein belesener Wald- und Fabrikarbeiter. Die Mutter erst Modistin, dann Haushaltshilfe. Marta selbst eine Ausnahmeschülerin, die auf Betreiben der Lehrerin eine Freistelle an der Bürgerschule Gengenbach erhielt. Ihre Mitschüler – überwiegend Buben – wählten sie, das Mädchen, zur Klassensprecherin.
Doch mit 14 Jahren endete Martas Schulzeit: Sie, die Lehrerin hätte werden wollen, musste der Mutter in deren Großhaushalt helfen, ein weiteres Baby war auf die Welt gekommen. Helfen. Das wurde Marta Schanzenbachs Lebensmotto. Damit verbunden war das Kämpfen gegen Ungerechtigkeit, das Kämpfen für Gleichheit.
Als sie von der seit 1928 in Berlin existierenden AWO-Schule erfuhr, ließ sie sich in dem damals noch sehr jungen Beruf der Fürsorgerin ausbilden. Und: Bereits mit 16 Jahren trat sie der SPD bei. »Die soziale Gesetzgebung im Bundestag hat sie wesentlich mitgeprägt«, hebt Renate Oswald hervor. Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, als der jüngere der Beiden, sagte über unsere Marta als die ältere und mütterliche Genossin: »Sie konnte mir oft liebevoll, aber diszipliniert eins draufgeben, als ich mal wieder ’ne ganz schön freche Klappe hatte.«