Die Orgel ist »Instrument des Jahres 2021«. Seit über 2000 Jahren bekannt, rückte sie im abendländischen Kulturkreis nach der Karolingerzeit als Kircheninstrument in den Mittelpunkt und ist seither weder aus den großen Kathedralen noch kleineren Dorfkirchen wegzudenken.
Die stetige Weiterentwicklung in den vergangenen Jahrhunderten ließ aus jeder Orgel ein Unikat werden. Rund 50.000 Orgeln werden in Deutschland gezählt und den Winterhalter-Orgeln steht mit ihrer Qualität und Einzigartigkeit bei der Einstufung der Orgelmusik zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe ein respektabler Platz zu.
Claudius Winterhalter ist sichtlich zufrieden. Gerade hat er den Zuschlag zum Bau der neuen Orgel in der Marienkirche in Bad Segeberg erhalten. Für die älteste Kirche Norddeutschlands im Stile der Backsteingotik waren beim Ent wurf des zukünftigen Großinstruments Einfühlungsvermögen und gewagte Neuerung gleichermaßen gefragt. »Das ist absolut spitzenmäßig«, zitiert er das Urteil der landeskirchlichen Fachkommission. Zur Gesamtkonzeption gehört auch eine neue, aus Stahl und Glas gefertigte Orgelempore, frei im Raum stehend. Die Orgel erhält einen Doppelprospekt und ist rundum sichtbar. »Am 18. Januar will sich Ministerpräsident Daniel Günther von diesem Projekt persönlich überzeugen«, erwähnt Claudius Winterhalter nicht ohne Stolz.
Schwarzwälder Orgelbau-Kunst
Auch die Hamburger wissen die Kunst der Schwarzwälder Werkstatt zu schätzen. Die Johannis-Kirche in Hamburg-Eppendorf ist eine bekannte Hochzeitskirche. »Hier wird demnächst eine Winterhalter-Orgel aufgebaut und hier hat schon Uwe Seeler geheiratet«, berichtet der ehemalige Hobby-Fußballer und HSV-Fan, »leidgeprüft« wie Claudius lachend zugibt. Kleines Trostpflaster: Es ist ein Treffen mit »uns’ Uwe« geplant.
Das Gespür für die passende Variante hat er von seinem Vater geerbt. Franz Winterhalter hat seinen Berufswunsch verwirklicht. Der Orgel bau meister, langjährige Mesner – wie Großvater Adam und Gustav – und Organist in der Oberharmersbacher Pfarrkirche St. Gallus hat seine Werkstatt neben der Kirche gebaut und sich aus bescheidenen Anfängen heraus einen ausgezeichneten Ruf erworben.
Es war ein Glücksfall, dass der älteste Winterhalter-Spross Claudius seinem Vater nacheiferte. 1976 war er mit 23 Jahren der jüngste Orgelbaumeister Deutschlands, übernahm 1982 den väterlichen Betrieb und pflegt seither erfolgreich das weithin bekannte Ansehen der Oberharmersbacher Orgelbauwerkstatt. Für seine zwischenzeitlich über 100 Instrumente im gesamten deutschsprachigen Raum erfuhr er stets beste Expertisen der Orgelfachwelt.
Hohe Hürden im Vergabe-Verfahren
Bis allerdings ein Orgel-Auftrag in trockenen Tüchern ist, gilt es einen langen und anstrengenden Weg zurückzulegen. »Wir haben vier bis fünf umfangreiche Wettbewerbe jährlich mit bis zu acht Jahren für die Auftragserteilung bei größeren Objekten«, berichtet der erfahrene Orgelbauer von den oftmals hohen Hürden im Vergabe-Verfahren. Architektur und Klang des Raumes seien bei der Planung ebenso wichtig wie behördliche Auflagen oder der finanzielle Spielraum der Auftraggeber. Immer wieder gelingt ihm die entscheidende Inspiration, mit dem er die Auftraggeber abholt und überzeugen kann. »Letztendlich muss die Gesamtkonzeption den Kirchenraum perfekt ergänzen und bereichern«, kann sich Winterhalter auf die Umsetzung seiner Ideen mit seiner Werkstatt-Crew verlassen »Der klassische Dreiklang – die bestmögliche Verknüpfung von Technik, Klang und Optik – muss stimmen«, bringt er es auf den Punkt.
Fahrbare Orgel in der Alpirsbacher Klosterkirche
Die Beispiele dafür sind Legion. Für weltweites Aufsehen in der Fachwelt sorgte in der Orgelfachwelt die auf Luftkissen fahrbare Orgel in der Alpirsbacher Klosterkirche. Behördliche Auflagen für den Denkmal geschützten Raum forderten bahnbrechende Ideen. Eine Empore fehlt, eine hinter Säulen verborgene Orgel entfaltet nicht den gewünschten Klang, Dorment-Treppe, Marien- und Hauptaltar durften nicht dauerhaft verdeckt werden. So reifte der Plan, eine bewegliche Orgel zu konstruieren. Sie lässt sich via Joystick »schwebend« im gesamten Vierungsraum der großen Klosterkirche positionieren, ist 12 Meter hoch und wiegt 17 Tonnen – reif für das Guiness-Buch der Rekorde.
Nicht minder genial war die Lösung für die Orgel in der Johanniskirche in Lahnstein. Um eine Gefährdung durch die wiederkehrenden Hochwasser des nahen Rheins auszuschließen, ist die Orgel wie ein »Schwalbennest« an der hohen Westwand der Kirche »aufgehängt«. Wellenbewegungen im Prospekt nehmen Bezug zu den unweit vorbeifließenden Rhein und die Lahn, gleichzeitig weist das Fischmotiv auf ein urchristliches Zeichen hin. Und der Organist sitzt »mitten im Geschehen«, mit direktem Blick zum Altar und zusätzlich nach draußen verbunden mit Kamera und Bildschirm.
Jede Menge komplexe Technik
Dass die Orgelbaufirma auf der Höhe der Zeit ist, lässt sich mit einem Blick auf das orgelbauliche Innenleben eindrucksvoll unterstreichen. »Es wird jede Menge komplexe Technik benötigt, von den traditionellen Trakturen für das perfekte Spielgefühl bis zu modernster Elektronik«, erläutert Claudius die duale Funktionsweise seiner Werke. Eine Orgel sei inzwischen auch ein »Hightech-Gerät«, wo sich u.a. über eine elektronische Register-Steuerung Tausende von Klangkombinationen speichern und abrufen lassen. In der Vorstellung vor Ort zeigt sich, wie das Klangbild einer Orgel nach teilweise mehrmonatiger Intonation, exakt auf die Akustik des jeweiligen Kirchenraumes abgestimmt ist.
Nicht zuletzt sei die Besich tigung der Werkstatt von Bedeutung, so der Firmenchef, wo eben der familiäre Cha rakter des Zehn-Mann-Betriebes ebenso sichtbar werde wie die Qualität der handwerklichen Arbeit. Dies bilde letztlich eine tragfähige Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Auftraggebern.
Orgel in der Wiblinger Kloster-Basilika vollendet
An Pfingsten 2021 wurde das bisher größte Orgelprojekt der Firma Winterhalter eingeweiht. Die Wiblinger Kloster-Basilika, bei Ulm an der Schwäbische Barockstraße gelegen, wurde nie ganz vollendet. Die Napoleonischen Wirren verhinderten sowohl die Fertigstellung der beiden auf 140 Meter Höhe geplanten Türme wie die Anschaffung eines angemessenen Orgelinstruments. 2014 kam endlich Bewegung in das Orgelprojekt.
Wieder einmal war es vor allem der Entwurf mit der angestrebten architektonischen Bereicherung und Vollendung des Kirchenraums, mit der Winterhalter die Wiblinger Fachkomission überzeugte. »Mir war sofort klar, dass eine neue Orgel diesem durch und durch einzigartigen Raum mit seiner eindrucksvollen Altaranlage in Höhe eines vierstöckigen Hauses, etwas Kraftvolles und zugleich Zurückhaltendes entgegen setzen musste. Es brauchte hohe Doppeltürme und flächenhafte Großzügigkeit im Prospektbild. Gleichzeitig galt es, die vertikale Raumstruktur mit dem Orgelkorpus nicht zu stören, sondern durch leicht kippende und spreizende Elemente den Eindruck von bewegter Lebendigkeit zu vermitteln«, umreißt Claudius Winterhalter sein Konzept.
Der erwähnte Dreiklang war perfekt. Die zum barocken Bild passende Ge staltung, das mechanisch und elektronisch ausgereifte Innenleben und schließlich die vornehmste Aufgabe einer Orgel, der überzeugende Klang, fanden uneingeschränktes Lob in der Fachwelt. »Dass schon wenige Wochen nach Fertigstellung das zeitgenössische Instrument in den Rang eines zukünftigen Denkmals eingestuft wurde, ist für alle Beteiligten eine gebührende Auszeichnung«, gibt Claudius Winterhalter das Lob von berufener Stelle an seine Werkstatt-Crew weiter.