Im Herbst passieren im Schwarzwald seltsame Dinge. Menschen strampeln sich auf ihren Fahrrädern ab, quälen sich Kilometer um Kilometer durch die Landschaft. Das Ziel: den eigenen Schweinehund überwinden und durchhalten beim Schwarzwald-Radmarathon. Vor gut zehn Jahren war Tommy Kälble einer von 90 tapferen Kämpfern. Er stellte einen Rekord auf, der bis heute Bestand hat.
Der Schwarzwald-Radmarathon ist eine inoffizielle Veranstaltung für Hobbyradfahrer. Er wird ausschließlich privat organisiert. Ziel ist es, so viele Kilometer und Höhenmeter zu fahren wie möglich. Dafür hat jeder Teilnehmer vier Tage Zeit. Vier Tage, in denen er auf sich alleine gestellt ist was Route, Verpflegung und Unterkunft betrifft. Aus organisatorischen Gründen ist die Teilnehmerzahl auf 100 begrenzt. Am Ende werden alle Daten, die der Fahrradcomputer erfasst hat, und die Durchschnittsgeschwindigkeit ausgewertet. Beschränkungen hinsichtlich der Routenwahl gibt es nicht. Die Teilnehmer dürfen auf Straßen und Waldwegen unterwegs sein. Der Start ist in Gaggenau Bad Rotenfels um 8 Uhr, das Ziel in Laufenburg am Oberrhein um 16 Uhr vier Tage später.
Streckenplanung mit Geodreieck
Angefangen hat alles im September 2007. Per Zufall hat Tommy Kälble (damals 41 Jahre alt) drei Wochen vor dem Start des Schwarzwald-Radmarathons davon erfahren. »Zuerst dachte ich, das
ist nur was für ausgebuffte Freaks und Profis. Aber irgend etwas in mir ließ mir keine Ruhe und ich meldete mich dann doch an«, erzählt er heute. Einfach mal probieren und mitfahren – verlieren konnte er ja nichts. Obwohl er gut trainiert war, war er alles andere als sicher, ob er im Teilnehmerfeld mithalten kann. »Ich besorgte mit eine Schwarzwaldpanoramakarte und mit einfachem Zirkel und Geodreieck plante ich mir meine Strecke,« blickt er zurück. »90 bis 120 Kilometer pro Tag müssten machbar sein, dachte ich.« Er notierte alles in Kurzform auf einem Zettel. Das war der Plan für diese stressigen und kraftvollen Tage. Ein Blick auf die Wettervorhersage versprach schönes Herbstwetter: zwischen 12 bis 16 Grad, eventuell leichter Nieselregen. Bedingungen, die dem Oberharmersbacher entgegen kamen.
1. Tag: Treffen in Gaggenau
Die Startgebühr von 80 Euro wurde in Gaggenau fällig. Jedes Fahrrad wurde mit einem »geeichten« Tachographen ausgestattet und jeder Teilnehmer erhielt einen GPS-Notfallsender für den Fall, dass irgend etwas passieren sollte oder jemand seine Tour abbrechen möchte. Des weiteren wurde der Rücktransport organisiert, ebenso das Abschlussessen und eine kleine Feier für alle Teilnehmer. Und dann ging’s auch schon los. 90 Fahrer machten sich auf den Weg, darunter 15 Frauen.
Tommy Kälble selbst reiste mit acht Kilogramm Gepäck. Er hatte lediglich das Allernötigste an Regenschutz, Trikots und Fleecepullis dabei. Sein Fahrrad wog damals 10,5 Kilogramm und war aus Aluminium. Die Gruppe blieb nicht allzu lange beieinander. Jeder hatte sich seinen eigenen Plan und seine eigene Strecke zurechtgelegt. Für den Oberharmersbacher führte der Weg Richtung Bad Herrenalb, Bad Wildbad, Forbach zurück Richtung Rheintal-Bühl und wieder hoch in den Mittleren Schwarzwald. Die erste Übernachtung war in einer Wetterschutzhütte für Jedermann. Dort war er nicht allein. Zwei Kollegen, die eine ähnliche Route wählten, waren ebenfalls dort.
2. Tag: Kilometer sammeln
Der zweite Tag startete mit müden Beinen und einem leichten Ziehen, das aber bald verging. Die Tour ging Richtung Altensteig und Simmersfeld, dann wieder zurück in Richtung Rheinebene, hoch zur Hornisgrinde (1164 Hm), wieder runter und wieder hoch. Kreuz und quer durch den mittleren Schwarzwald. Forbach, Baiersbronn, Ruhestein, Achertal. »Mein Plan war zuerst viele Kilometer zu machen, bevor die kraftraubenden Höhenmeter kamen«, erläutert Kälble seine Renntaktik.
In Kappelrodeck schlug er das zweite Nachtquartier auf. Das Landgasthaus hatte zwar geschlossen, doch man stellte ihm eine Notunterkunft zur Verfügung und glücklicherweise auch eine Duschgelegenheit sowie ein kleines Essen aus der kalten Küche.
3.Tag: Müde Beine
Die Heimatberge rund ums Harmersbachtal waren die, die Tommy Kälble am dritten Tag in Angriff nahm. Das Ziel: so viele Höhenmeter wie möglich zu absolvieren. »Meine Waden und Oberschenkel spürte ich deutlich. Man hat ja keine Zeit sich zu regenerieren und auszuruhen«, blickt er zurück. Täglich zehn bis zwölf Stunden auf dem Rad – das hinterlässt deutliche Spuren. Doch zum Glück gibt es gut funktionierende Hausmittel. Latschenkiefer, Pferdesalbe, Franzbranntwein pflegten die Muskeln. Mittlerweile war er alleine unterwegs. Die beiden Kollegen von der ersten Nacht hatten sich verabschiedet, weil jeder sein eigenes Tempo fuhr. »Bei jeder kleinen Pause schmierte ich mich ein und versuchte mich zu massieren und aufzulockern«, beschreibt der Sportler seinen körperlichen Zustand nach 180 Kilometern. Immer wieder warf er einen Blick auf seinen Spickzettel. Welcher Berg, welche Strecke? Freudenstadt, Bad Peterstal, Löcherberg, Brandenkopf, Wolfach…wieder hoch, wieder runter…Richtung Schiltach, Triberg, Furtwangen…kreuz und quer…rüber, drüber…es zehrte an der Kraft, kein Zuckerschlecken.
Bei einem uralten Bundeswehrkollegen fand Kälble sein nächstes Quartier in Gutach. Er erzählte von seinem Vorhaben, lange saßen sie beisammen mit der Familie. Die Frau des Freundes knetete die geschundenen Beine erstmals ordentlich durch und ließ sogar ein heißes Bad ein. »Es war herrlich!«
4. Tag: Endspurt nach Laufenburg
Nach der optimalen Regeneration war Kälble wieder hergestellt. An Tag 4 ging es um alles oder nichts. Die Route führte unter anderem hoch auf den Kandel, den Blauen (1165 Hm, 10 km endlos bergauf), Belchen (1414 Hm), Feldberg (1493 Hm), Hohe Möhre (983 Hm). »Ich kam an Punkte, da wollte ich nimmer, konnte nimmer«, erzählt Kälble. »Die Luft wurde verdammt knapp, die Muskulatur fing an zu jammern.« Doch dann gab es auch die andere Seite: immer wieder tolle Ausblicke und kurze Pausen. Das Ziel war so greifbar nahe. Nur noch ein paar Stunden galt es durchzuhalten. 380 Kilometer standen schon auf dem Tacho und noch war ein bisschen Zeit bis ins Ziel. Obwohl die Beine schmerzten ging es noch einmal den nächsten Berg hoch und runter, dann zum Endspurt nach Laufenburg. Um 16.15 Uhr rollte er ins Ziel. Einige Teilnehmer waren schon da, andere noch etwa eine halbe Stunde unterwegs. Die Freude, es geschafft zu haben, war bei allen riesengroß.
Als die Fahrer angekommen waren, wurden die Tachographen ausgewertet. Weniger als die Hälfte der Starter kam auch ins Ziel. Alle anderen hatten die Tour abgebrochen. Die Strapazen waren extrem, die Müdigkeit setzte Grenzen, das Durchhaltevermögen war stark strapaziert.
Die Spannung im Bus war riesengroß. Was haben die anderen erlebt? Wer wird Sieger sein? Im Bus roch es nach allem nur nicht nach Deo. Ein seltsamer Geruch von sehr müden Männern und Frauen.
Ganz oben auf dem Treppchen
In der Auswertung wurden die gefahrenen Kilometer, die Höhenmeter, die gefahrene Zeit in Stunden und die Durchschnittsgeschwindigkeit berücksichtigt. Im Stillen rechnete sich Tommy Kälble einen Platz im Mittelfeld aus, doch es kam anders. Am Ende stand er ganz oben auf dem Treppchen. Damit hatte er nicht gerechnet. Auf seinem Tachographen waren 455 Kilometer, 7.800 Höhenmeter und 42,5 Stunden Fahrzeit auf dem Fahrrad mit einem Durchschnitt von elf Stundenkilometern zusammengekommen.
»Wenn man bedenkt, wie hoch unsere Berge sind, kann sich jeder im Stillen ausrechnen, wie oft man rauf und runter fährt in unserer Region, um solche Höhenmeter zu erreichen«, lacht Tommy Kälble heute.
Wille bezwingt Berge
Und was bleibt vom Schwarzwaldmarathon? Der Sieger des Jahres 2007 sagt: »Wenn ich so darüber nachdenke, wundere ich mich unheimlich, was man erreichen kann, wenn man einen festen Willen und ein Ziel vor Augen hat.«
Den Marathon gibt es übrigens immer noch. Es hat noch keiner geschafft, die Marke von Tommy Kälble zu knacken, auch wenn einige Teilnehmer schon sehr nah herangekommen waren. Und dass bei wesentlich verbessertem Material – Räder aus Vollcarbon statt aus Aluminium wiegen um die drei Kilogramm weniger als sein altes Material.
Heute sagt der Extremsportler: »Ich habe absolut nix gegen E-Bikes, aber ich bin fester Überzeugung dass es immer noch das non-plus-ultra ist, wenn man aus eigener Kraft die Berge hoch kommt, um dem inneren Schweinehund ein Schnippchen zu schlagen. Sein Motto: Fahrrad-Trikots sind zum Verschwitzen da und nicht zum vorzeigen. Und: Wer auf dem Rad später bremst, ist länger schnell …
Der grobe Streckenverlauf
Gaggenau, Mahlberg, Dobel, kleiner Wendelstein, Teufelsmühle, Merkur, Bühler Höhe, Badener Höhe, Streitmannskopf, Kaiser-Wilhelms-Turm, Simmersfeld, Groß Hahnberg, Leinkopf, Pfälzerkopf, Großbühl, Großer Hundskopf, Kniebis, Löcherberg, Freiersberg, Alpirsbach, Landwasser, Hühnersedel, Rohhardsberg, Kandel, Notschrei, Schauinsland, Belchen, Blauen, Rümmelsbühl, Gugelturm, Feldberg, Große Möhre, Laufenburg.