Auf Betreiben von Erzbischof Conrad Gröber forderte am 17. Mai 1945 das Erzbischöfliche Ordinariat Freiburg per Erlass an die Dekanate von allen katholischen Pfarrämtern Berichte zur jüngsten Vergangenheit ein. Darin sollten die Ereignisse vor, während und nach der Besetzung durch die alliierten Truppen benannt und die Kriegsschäden an den kirchlichen Gebäuden aufgeführt werden.
Die in der Regel zeitnah von den örtlichen Pfarrern verfassten Antworten fielen unterschiedlich lang und ausführlich aus. Sie geben uns einen zuverlässigen Einblick in die Vorgänge und Zustände in den einzelnen Gemeinden während der letzten Phase des Krieges und in den ersten Monaten der Besatzungszeit.
In der Gemeinde Nordrach mit ihren verschiedenen Ortsteilen und Zinken lebten 1939 neben fünf Juden und 40 Protestanten 1.614 Katholiken. Seit 1932 bekleidete Anton Nöltner das Amt des Pfarrers; 1949 verließ er das Tal und übernahm die Pfarrei Niederwasser. Bei der Beantwortung des Freiburger Erlasses hielt er sich genau an das vorgegebene Frageraster.
Schon 1939 Ziel feindlicher Flieger
Nordrach war schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn Ziel feindlicher Flieger geworden, berichtet Nöltner. Die 28 im Herbst 1939 abgeworfenen Bomben hatten offenbar einem Munitionslager in einem Seitental gegolten. Da sie auf freies Feld fielen und nicht explodierten, konnten sie von Wehrmachtangehörigen ausgegraben und entschärft werden. Jahre später, bei einem Luftangriff auf Nordrach-Kolonie am 28. Februar 1945, wurden das Schulhaus und acht weitere Häuser erheblich beschädigt; der Angriff hatte den auf der Dorfstraße abgestellten Militärlastwagen gegolten. Tödlich endete ein Fliegerangriff mit Bordwaffen für einen fünfjährigen Jungen am 18. April 1945.
Besetzung des Tals am 19. April 1945
Am Tage darauf, am 19. April, erfolgte die Besetzung des Tales. Von den umliegenden Höhen rückten französische Truppen, die aus marokkanischen Soldaten bestanden, ins Dorf. Dabei kam es auf dem Höhenzug des Mühlsteins und im Untertal zu Gefechten, bei denen acht Wehrmachtssoldaten und Volkssturmmänner fielen; sie fanden, wie Nöltner schreibt, „auf dem hiesigen Friedhof ihr Heldengrab“. Ein junger Soldat, der einen Lungenschuss erlitten hatte, konnte in der Nordracher Heilstätte kuriert werden. Bewohner des Dorfes kamen an diesem Tag nicht zu Schaden, auch nicht, als die deutsche Artillerie von Zell aus in Richtung Nordrach feuerte.
Schlimme Vorkommnisse ereigneten sich während der Einnahme des Dorfes offenbar nicht. Bei der Sprengung einer Brücke wurden mehrere umliegende Häuser erheblich beschädigt. Die Kirche, die Kapelle und das Pfarrhaus überstanden die Kriegszeit unbeschadet. Die französischen Truppen durchsuchten die Häuser nach deutschen Soldaten, wobei es zu Diebstählen kam: „Die Marokkaner nahmen viele Fahrräder, auch Bargeld und Schmuck weg.
ergewaltigungen kamen während des Durchzugs dieser Truppen nicht vor.“ Mit Blick auf die früheren Zwangsarbeiter berichtet Nöltner: „Polen und Russen plündern beinahe jede Nacht auf den abgelegenen Höfen. Vergewaltigungen sind bis jetzt nicht vorgekommen.“
NSDAP-Funktionäre hatten den Ort längst verlassen
Wie in anderen Gemeinden versuchten die ehemaligen Parteigenossen möglichst nicht aufzufallen. Die führenden NSDAP-Funktionäre hatten den Ort längst verlassen und befanden sich, wie Nöltner schreibt, in Gefangenschaft. In dem ehemaligen Heim der SS wurden nach Einnahme des Dorfes zunächst amerikanische Pioniere untergebracht; nach deren Abzug richteten die französischen Truppen hier ein Lazarett ein.
Insgesamt, so die Bilanz des Pfarrers am 1. August 1945, sei die Pfarrgemeinde „verhältnismäßig günstig“ durch den Krieg gekommen. Besonders freute ihn, dass in den letzten Monaten des Krieges die Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen ohne Unterbrechung durch Fliegeralarm abgehalten werden konnten, dass an Fronleichnam „der Besuch des Gottesdienstes und die Teilnahme an der Prozession mustergültig wie nie in den früheren Jahren“ gewesen sei und dass die Besatzungsmächte das religiöse Leben der Gemeinde in keiner Weise beeinträchtigt hätten.
Was ihm allerdings bitter aufstieß, war das Verhalten einiger Frauen und Mädchen aus der Pfarrei: dieses sei „bedauerlich leichtsinnig und ärgerniserregend. Es sind solche, die zuvor ganz besonders „national“ eingestellt waren.“ Mit dieser auch von anderen Pfarrern überlieferten Beobachtung schloss Nöltner seinen Kriegsbericht an das Ordinariat.
Unser Gastautor
Foto: Hanspeter Schwendemann
Dr. Ludger Syré wurde 1953 in Münster/Westfalen geboren. Er studierte Geschichte und Germanistik und schlug nach der Promotion in Osteuropäischer Geschichte die Laufbahn des Höheren Bibliotheksdienstes ein. Von 1988 bis 2020 war er Fachreferent für Geschichte und Baden-Württemberg und Leiter der Digitalisierung an der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe. Er ist Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Mannheim und Autor zahlreicher Publikationen.
Quelle:
Die „Kriegsberichte“ aus den Pfarreien des Erzbistums Freiburg: Zustände und Entwicklungen am Kriegsende und in der ersten Nachkriegszeit / bearb. von Jürgen Brüstle, Annemarie Ohler, Norbert Ohler und Christoph Schmider. – In: Freiburger Diözesan-Archiv 141 (2021), Seite 117-509 [Dekanat Kinzigtal S. 407-475].