Ein Jahr verbrachte Claudine Spire einst in einem Nordracher Heim für Kinder mit deutschen Müttern und französischen Vätern, bevor sie in Frankreich adoptiert wurde. Mit Hilfe des Vereins »Herzen ohne Grenzen« begab sie sich auf Spurensuche.
Claudine Spire hat mal wieder eines ihrer Treffen mit Beatrice Kelsch, der Frau von »Herzen ohne Grenzen«. Im Café Erdrich sitzen sie, schräg gegenüber des beeindruckenden Rothschildhaus: Was einst eine Lungenheilstätte war und heute ein Pflegeheim für psychisch Kranke ist, fungierte von 1947 bis 1949 als französisches Heim für Kinder von deutschen Frauen und französischen Besatzungssoldaten.
Claudine Spires in Freiburg lebende Mutter Erika war 19 Jahre jung, als sie ein Kind von einem Soldaten der französischen Armee bekam. Eine Schande ohnegleichen im Jahre 1946. »Sie behielt mich etwa sechs Monate«, erzählt die gebürtige Freiburgerin, »dann wollten Erikas Eltern mich nicht mehr in der Familie haben.« Weil ihre junge Mutter den damaligen Gesetzen nach noch nicht volljährig war, musste sie sich fügen und das Baby in ein deutsches Kinderheim geben.
Von der Vereinigung »La Famille adoptive française« wird Claudine Spire Jahrzehnte später hören, dass man sie dort aus Sicherheitsgründen herausgeholt habe. Weil sie als »französischer Bastard« nicht gerne gesehen war. Eine »Pouponnière« wie in Nordrach dagegen, ein französisches Kinderheim also, rieb sich die Finger nach einem Kind wie sie es war. Denn die beiden Weltkriege hatten die französische Bevölkerung derart dezimiert, dass Frankreich in den deutschen Besatzungszonen gezielt nach Kindern mit französischen Vätern suchte, um sich diese als Nachwuchs zu sichern. In Heimen wurden sie aufgepäppelt, anschließend bei französischen Adoptiveltern untergebracht.
Auf diese Weise kam Claudine Spire als Einjährige bis zum April 1948 in die Nordracher Pouponnière. »Ich muss hier glücklich gewesen sein«, sagt die heute 70-Jährige. Denn als sie das Gebäude als reife Frau das erste Mal wiedersah, verursachte ihr das keine unguten Gefühle. »Auf jeden Fall bin ich hier gut gefüttert worden«, erzählt sie lachend von einem Foto, das kurz nach ihrer Ankunft in ihrem neuen Pariser Zuhause aufgenommen worden war und sie mit dicken Pausbacken zeigt.
»Ich musste stark und gesund sein«, weiß sie heute. Denn so fürsorglich die Erzieherinnen sich um die Kinder kümmerten, so gnadenlos wurden diese aussortiert: Wer in seiner Entwicklung nicht den Normen entsprach, körperliche Gebrechen oder gesundheitliche Probleme hatte, der galt als nicht vermittelbar, als »Ausschussware« sozusagen, und wurde in andere Heime abgeschoben.
Claudine Spires französische Adoptiveltern gaben ihr ein liebevolles Zuhause. Eine Tante jedoch war alles andere als nett zu ihr, bezeichnete sie abfällig als »boche«. »Dass meine Eltern nicht meine leiblichen waren, hatten sie mir von Anfang an erzählt«, berichtet Spire. Wann immer sie wollte, durfte sie sich die Unterlagen anschauen, die es über sie gab, und das machte sie oft.
Mit über 50 ging’s los
Doch ihre Herkunft kümmerte sie nicht weiter, auch Deutschland interessierte sie nicht, »bis ich 51 oder 52 Jahre alt war. Da wollte ich eines Tages auf einmal Bescheid wissen, keine Ahnung warum«, lacht die vierfache Mutter und mehrfache Großmutter ihr warmes Lachen.
Weil sie die deutsche Sprache nicht beherrscht, kam sie auf eigene Faust nicht weiter. Ein junges, zweisprachiges Mädchen fand ihre leibliche deutsche Mutter dann aber innerhalb von drei Monaten, arrangierte ein von einem Übersetzer begleitetes Treffen. »Erika erzählte mir einiges, wenn auch nicht alles, wie ich inzwischen weiß.« Der von da an bestehende schriftliche Kontakt brach von Erikas Seite aus dann aber irgendwann ab.
Nach dem Tode der leiblichen Mutter machte Claudine Spire mit der Hilfe der ebenfalls zweisprachigen Offenburgerin Beatrice Kelsch und »Herzen ohne Grenzen« eine Halbschwester ausfindig. Die aber hatte bis dato genauso wenig von Spires Existenz gewusst wie Erikas Mann und lehnte ein Treffen kategorisch ab.
Dem Verein der Besatzungskinder war Claudine Spires auch in der – allerdings vergeblichen – Hoffnung beigetreten, einige jener wie sie einst zur Adoption Vermittelten wiederzufinden, mit denen sie in ihrer Pariser Kindheit einmal im Jahr gespielt hatte. Bei Treffen, die von »La Famille adoptive« sowie vom französischen Roten Kreuz organisiert worden waren, »irgendwann hat sich das aber verlaufen.«
Anderen Mut machen
Immerhin Kontakte zu anderen Menschen mit ähnlichem Schicksal wie dem ihren haben sich ergeben. Und mit der Hilfe des Nordracher Historischen Vereins konnte die Frau, die 1951 die französische Staatsbürgerschaft erhalten hat, das Rothschildhaus – die einstige Pouponnière, an die sie bis auf die Eingangstür keinerlei Kindheitserinnerungen hat – von innen besichtigen, sogar mit einer früheren Erzieherin sprechen.
»Mein Leben hat sich durch das Wiederfinden von Nordrach nicht verändert, aber vervollständigt«, meint Claudine Spire und will anderen nach ihren Wurzeln suchenden Besatzungskindern mit ihrer Geschichte Mut machen, sich ebenfalls an »Herzen ohne Grenzen« zu wenden. Die Organisation erreicht man per E-Mail unter Herzenohnegrenzen@gmx.de, www.coeurssansfrontieres.com oder telefonisch durch Beatrice Kelsch 0177/7484302.