Die Wut auf die katholische Kirche sitzt tief. »Die lassen uns wieder hängen«, sagt Raphael Hildebrandt, »und ich habe gedacht, dieses Mal meinen sie es ernst.« Mehr als 400 Mal sei er als Ministrant missbraucht worden, erzählt der 47-Jährige, im tiefkatholischen Schwarzwaldort Oberharmersbach (Ortenaukreis) habe sich der damalige Pfarrer Franz B. systematisch und über Jahrzehnte hinweg an Dutzenden Kindern und Jugendlichen sexuell bedient – vom Kuss bis zur Vergewaltigung. Aufgeklärt und aufgearbeitet wurde der Missbrauchsskandal bisher nicht. Die Kirche hatte wenig Interesse daran, es wurde geschwiegen und verheimlicht. Selbst Personalakten des mutmaßlichen Täters seien manipuliert worden, hat der Freiburger Erzbischof Stephan Burger vor Kurzem harsch kritisiert und seinem Amtsvorgänger Robert Zollitsch Vertuschung vorgeworfen.
Zollitsch habe Anfang der 90er-Jahre von den Vorgängen erfahren, aber weder die Staatsanwaltschaft eingeschaltet noch die Öffentlichkeit informiert. Franz B., damals 60 Jahre alt, wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt und musste binnen drei Tagen das Pfarrhaus verlassen.
Beeindruckt vom Aufklärungswillen des Erzbischofs Burger ist Raphael Hildebrandt zusammen mit zwei weiteren Missbrauchsopfern zu Gesprächen nach Freiburg gefahren, das letzte fand kurz vor Weihnachten statt. »Ich bin enttäuscht«, sagt er über die Begegnungen, er habe viel mehr erwartet – sowohl menschlich als auch finanziell. »Die haben bis heute kein richtiges Konzept, wie sie mit uns Opfern umgehen sollen«, beklagt Hildebrandt. Er hat als einer der wenigen den Mut aufgebracht, offen über seine traumatisierenden Erfahrungen zu sprechen. Viele der missbrauchten Ministranten würden ihr Leid verschweigen, erzählten weder den Partnern noch den Familienangehörigen vom Horror im Pfarrhaus.
»Das Erzbistum wird nicht zimperlich sein«
20.000 Euro Schmerzensgeld hat Hildebrandt 2010 von der katholischen Kirche erhalten, jetzt wurde der Betrag um 10.000 Euro erhöht. Insgesamt acht Betroffene aus Oberharmersbach hätten die Aufstockung erhalten, heißt es von Seiten des Erzbistums. »Bei dem, was ich jahrelang erlebt habe, ist die Summe viel zu niedrig«, sagt Hildebrandt. Er will auch nicht mit Einmalzahlungen abgespeist werden. In Aussicht stellt das Erzbistum im Fall von Arbeitsunfähigkeit oder Krankheit ein Modell mit monatlichen Zahlungen für die Opfer von sexuellem Missbrauch, ähnlich, wie es das Opferentschädigungsgesetz vorsieht.
Immerhin soll das jahrelange Wegsehen ein Ende haben. Die neu gegründete Kommission Macht und Missbrauch des Erzbistums Freiburg will auch das Geschehen in Oberharmersbach aufarbeiten. Eine Arbeitsgruppe aus pensionierten Staatsanwälten und Kriminalbeamten soll damit beauftragt werden, alle Details der Causa Franz B. aufzudecken. »Das Erzbistum wird dabei nicht zimperlich sein«, sagt Felizia Merten, Referentin des Erzbischofs. »Man will herausfinden: Wer wusste was im Ort? Warum wurde Franz B. zwar in Ruhestand versetzt, aber vieles nie angesprochen? Wie sind die Verantwortlichkeiten?« Transparenz sei dabei ein wichtiges Gebot, schließlich gehe es darum, das Vertrauen in die katholische Kirche wiederherzustellen.
Auf der Agenda der Arbeitsgruppe wird nicht nur Oberharmersbach stehen. Auch die Vorwürfe gegenüber dem mittlerweile verstorbenen Zisterzienserpater Gregor M., der im Kloster Birnau und andernorts Ministranten missbraucht haben soll, werden thematisiert.
Die Aufarbeitung sei wichtig, sagt Hildebrandt, alles müsse ans Licht. Besser spät als nie. Hildebrandt hat seinen Teil zur Aufklärung beigetragen, er zeigte Franz B. 1995 wegen sexuellen Missbrauchs an. Wenig später fand man den Pfarrer tot auf, er hatte sich im Altersheim umgebracht.




