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Lebhafter Flugverkehr herrscht über den Dächern unserer Stadt. Störche fliegen kreuz und quer, klappern munter im Nest und schauen von hoher Warte auf unser menschliches Treiben. Wer sich jedoch daran unbeschwert erfreuen möchte, der hat versäumt, im letzten Amtsblatt den Ausführungen des Bürgermeisters zu folgen. Mit den liebgewordenen Vorstellungen vom sympathischen Frühlingsboten wird gründ- lich aufgeräumt. Die gewählte Vorgehensweise zeugt von rhetorischem Geschick. Nach vorsichtig abwägendem Beginn („Könnte es sein..“), entfaltet sich unvermittelt eine dynamische Argumentationskette. Wie ein versierter Filmregisseur lässt das Stadtoberhaupt vor dem Leser eine rasche Abfolge an Abscheu erregenden Bildern entstehen: im spitzen Storchenschnabel verschwindet ein wehrloses Kleintier nach dem andern. Sogar vor niedlichen Entenküken macht die Mordlust des Storches nicht halt. Die argumentative Begleitmusik liefern Beweiszahlen, an deren Objektivität keiner zweifeln soll. Der bisher so sympathische Storch trägt zum Artenschwund bei. Wer wollte jetzt noch ernsthaft dabei vom Klimawandel reden, die rigorose Bodenbewirtschaftung auch nur erwähnen? Massive Dezimierung der Storchenkolonie heißt die Konsequenz.
Zwangsläufig ergibt sie sich aus dem Vorigen; sie auszusprechen überlässt der Bürgermeister uns Bürgern. Wie kommt es, dass die angeführten neuen Erkenntnisse zu ökologischen Schadensentwicklung eindeutig den gesicherten For- schungsergebnissen widersprechen? Müsste man nicht umgekehrt annehmen, dass gerade die Vielzahl unserer Störche auf eine noch relativ intakte Umwelt mit einer stabilen Kleintierpopulation verweist? Und welche Flurschäden gäbe es, wenn nicht mehr die Störche dafür sorgten, dass z.B. die Zahl der Wühlmäuse zuverlässig begrenzt wird? Welchen Vorteil gedenkt die Stadt Zell eigentlich aus der Anwesenheit der Störche zu ziehen? Sind nicht gerade sie staunenden touristischen Gästen ein begehrtes Fotomotiv? Womit will die Stadt denn werben, nachdem „Hahn und Henne“, unsere Wappentiere, nur noch museal blassen Glanz verbreiten? Wie wäre es, wenn der Magistrat, ggf. auch unser Stadtrat, ihren Blick ins Elsass richteten? Ein Arbeitsbesuch dort, z.B. im Storchenstädtchen Munster, ein Austausch mit Amtskollegen, könnte zeigen, wie man sich mit Störchen arrangiert, wie man mit dabei unvermeidlichen Konflikten umgeht. So entstünde echter Informationsgewinn aus eigener Anschauung, die solide Basis für verantwortungsvolles Handeln. Und wie steht aktuell unsere Stadtverwaltung zum charmanten Werbelogo unseres Einzelhandels: ein badisches Storchenpaar, liebevoll übereinstimmend in der Wahl ihres bevorzugten Ortes: “Schätzli gell, mir kaufe in Zell“. Sollte es bald stattdessen frustriert so klingen? „Schätzli gell, jetzt aber nix wie weg us Zell“?
Dr. Andreas Ertle,
Zell a. H.