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Zell am Harmersbach | 25.09.2019

Selbsterkenntnis macht das Leben aus

Ernst Pilicks Tschechow-Rezitation beeindruckte das Publikum

Foto:
Die Vorsitzende des Kneippvereins Marianne Burger (links) freute sich sehr, Ernst Pilick (rechts) wieder zum Auftakt des Herbstprogramms in Zell begrüßen zu dürfen. Foto: Hansjörg Wörner
von Hansjörg Wörner

Schauspieler Ernst Pilick ließ am Freitagabend im Foyer des Storchenturm-Museums den Text des russischen Dramatikers Anton Tschechow mit einer meisterhaften Rezitation lebendig werden. Auch ein weiterer Text Tschechows sowie ein Gedicht von Heinrich Heine als Zugabe wurden vom Publikum begeistert aufgenommen.

»Es gibt kein Alter, wo die Kunst ist«, behauptet der mit seinem Schicksal hadernde Protagonist in Anton Tschechows Einakter »Schwanengesang«. Doch den Naturgesetzen trotzt er vergeblich und er muss einsehen: »Es gibt keine heilige Kunst!«.

Dass der hochbetagte Bühnendarsteller das Herbstprogramm des Zeller Kneippvereins eröffnet, hat eine lange und geschätzte Tradition. Dass sie auch anno 2019 fortgesetzt werden konnte, freute Marianne Burger bei der Begrüßung der Gäste besonders. Denn Ernst Pilick ist nach einem Sturz noch nicht vollständig genesen. Seiner Darstellungs- und Rezitationskunst merkte man das an diesem Abend nicht an.

In seiner Rolle als Referent zum Thema »Schädlichkeit des Rauchens« erhob er sogleich die ebenso kraftvolle wie wandlungsfähige Stimme, damit nicht der geringste Zweifel an seinen Ausführungen aufkommen sollte. Wiederholte Beteuerungen, streng wissenschaftlich vor­zugehen, entpuppten sich jedoch als reine Phrasen. Vielmehr war es dem vorgeb­lichen Referenten eine Herzensangelegenheit, sein qualvolles Dasein in der Ehe mit der dominierenden Gattin zu beklagen: Während sie eine Musikschule und ein Mädchenpensionat leite und damit gut verdiene, bleibe ihm keine Kopeke. Dafür müsse er persönlich fast alle Fächer in der Mädchenschule unterrichten und darüber hinaus Hausmeister- und Küchenarbeiten verrichten. Trotzdem leide er des Öfteren Hunger und werde von seiner Frau als »Vogelscheuche« oder sogar als »Satan« bezeichnet.

Während der Redner sich in Larmoyanz und Selbstmitleid ergeht – von Pilick darstellerisch perfekt in Szene gesetzt –, wendet sich das Blatt urplötzlich: Nicht dass der Referent zum eigentlichen Thema zurückkehrt, sondern er bietet Prospekte des Mädchenpensionats zum Preis von 30 Kopeken an. Außer leisem Lachen keine Reaktion im Publikum. Das nächste Angebot lautet 20 Kopeken. Erneutes Gelächter, das sich verstärkt, je weiter sich der Redner schwadronierend in seiner abstrusen Gedankenwelt verliert.

Die nächste Kehrtwende lässt nicht lange auf sich warten. Der Referent bricht seinen Vortrag nach einem Blick auf die Uhr ab, da er unmittelbar mit dem Erscheinen seiner Frau rechnet. Die kommt zwar nicht, aber er macht sich sicherheitshalber aus dem Staub – nicht ohne abschließend und mit Nachdruck auf die »Schädlichkeit des Rauchens« hingewiesen zu haben. Geändert hat sich nichts: Wie die meisten Figuren in Tschechows Werken bleibt auch der Referent im Korsett der gesellschaftlichen Konventionen jener Zeit und seiner persönlichen ehelichen Situation gefangen.

Vom Bühnenkünstler zum Possenreißer

Auch »Schwanengesang« zeigte den Autor als scharfen Beobachter und den Darsteller als dessen virtuosen Interpreten und Vermittler. Ernst Pilick verkörperte in dieser Szene einen gealterten Schauspieler, der nach der letzten Vorstellung und einem Saufgelage allein im verlassenen Theater zurückbleibt. Er fürchtet sich, fühlt sich einsam, weil er keine Frau und keine Kinder hat, die zuhause auf ihn warten. Voller Selbstmitleid blickt er auf sein Leben zurück: Was war er in jungen Jahren für ein Schauspieler gewesen! Ein wahrer Künstler, in den sich damals ein Mädchen Hals über Kopf verliebt hatte. Aber zur Heirat war es nicht gekommen, denn sie hatte von ihm verlangt, dass er seinen Beruf als Bühnenmime aufgeben solle. Doch die Schauspielerei war längst Teil seines Lebens geworden.

Er hatte immer weitergespielt. Und er war allein geblieben. Als die großen Rollen ausblieben, hatte er sich zum Hanswurst und Possenreißer gemacht und der Lächerlichkeit preisgegeben. Früher hatte er es nicht gespürt, sondern erst jetzt, als er in der Nacht alt geworden ist. Die schmerzliche (Selbst)erkenntnis: Das Leben ist vertan, eine »heilige Kunst« gibt es offenbar nicht.

Ernst Pilick agierte bei diesem Monolog in Hochform, verstand es, die Ängste und das Versagen des Tschechowschen Protagonisten freizulegen. Bevor der reiche Beifall im Foyer einsetzte, herrschte betroffenes Schweigen. Vielleicht liegt es daran, dass Anton Tschechows »Helden« etwas Zeitloses haben. Der Autor selbst hatte einmal erklärt: »Solange wir jung sind, zwitschern wir munter wie die Spatzen …; später, wenn wir uns den Vierzigern nähern, sind wir schon Greise und fangen an, den Tod zu denken. Schöne Helden sind wir.«

Als Zugabe hatte Ernst Pilick ein Gedicht von Heinrich Heine ausgewählt. Der Dichter, dem wir schönste Verse und Lieder verdanken, war die letzten acht Lebensjahre ans Krankenbett gefesselt, die »Matratzengruft«, wie er es nannte, teils gelähmt, fast blind, abgemagert zu einem Skelett. Heine wusste um das Unabänderliche und hielt trotzdem entgegen: »O, Ihr Götter! Ich bitte Euch nicht, mir die Jugend zu lassen, aber lasst mir die Tugenden der Jugend … Lasst mich nicht ein alter Polterer werden, der aus Neid die jüngeren Geister ankläfft, oder ein matter Jammermensch, der über die gute alte Zeit beständig flennt …«

Begleitet von Applaus dankte Kneipp-Vorsitzende Marianne Burger dem Schauspieler und großartigen Rezitator für einen Abend, der Nachdenkenswertes bot.

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