»Ich kann Ihnen eine Beruhigung mit nach Hause geben«, wandte sich Heinz Burger gleich zu Anfang an sein kleines doch umso interessierteres Publikum, »die Narkose ist heutzutage wirklich sehr sicher geworden.« Ein Restrisiko besteht dennoch, »und wird sich auch nie auf Null bringen lassen.«
»Anästhesie bedeutet Betäubung, also ›ohne Gefühl‹ – und das will man bei einer Operation ja sein«, erklärt der promovierte Facharzt für Anästhesiologie, den der Kneipp-Verein zu einem Vortrag in das Kultur- und Vereinszentrum eingeladen hat.
Mit einer Regional- und einer Lokalanästhesie »kann man jeden Bereich des menschlichen Körpers gut betäuben«, so Heinz Burger. Viele Operationen erfordern jedoch eine Vollnarkose, weil sich der Patient im künstlichen Schlaf nicht bewegt. Eingriffe am Gehirn, dem Bauchraum und an Blutgefäßen sind so erst möglich geworden.
38 Jahre lang hat Heinz Burger in seinem Beruf gearbeitet, 31 davon im Zentralklinikum in Lahr. In dieser Zeit habe sich die Vollnarkose – sprich die Allgemeinanästhesie – rasant entwickelt, erläutert er. Jenes Verfahren also, bei dem sowohl das Bewusstsein als auch das Schmerzempfinden vollständig ausgeschaltet wird und die Reflexe gehemmt werden.
In halbwegs geordneter Form existiert die Anästhesie noch keine zwei Jahrhunderte. Zuvor »ging die Narkose mit den Zähnen«, so der Mediziner, »die musste man nämlich zusammenbeißen, die Chirurgie war früher eine barbarische Geschichte.«
Kokain
Allenfalls Rauschmittel kamen zum Einsatz (auch das 1836 erstmals wissenschaftlich beschriebene Kokain), sowie Kälte, Alkohol oder die berühmte Holzhammermethode – sofern die zu Operierenden Glück hatten. War ihnen dies nicht beschieden, fand die Prozedur ohne jegliche Betäubung statt. Burger wirft ein Gemälde an die Wand, das eine Fußamputation á la Mittelalter zeigt, »da läuft es einem kalt den Rücken runter«: Die einzige Hilfe, die dem abgebildeten Patienten – einem jungen Burschen – zuteilwird, besteht darin, dass ihn fünf starke Männer festhalten. Ein sechster hantiert mit einer Säge.
Erst 1846 fand die erste Äthernarkose statt. Als Nebenwirkung dieser bahnbrechenden Methode mussten sich die Operierten jedoch in der Regel noch Tage nach dem Eingriff erbrechen. Überhaupt wusste man damals nichts darüber, wie die Narkose das physiologische Gleichgewicht durcheinander bringt.
Ein halbes Jahrhundert später wurde die erste erfolgreiche Spinalanästhesie durchgeführt. »Diese Methode als ›Rückenmarksanästhesie‹ zu bezeichnen, ist völlig falsch«, schaudert es Burger, »kein Arzt wird jemals ins Rückenmark stechen!« 1932 schließlich wurde das erste intravenöse Anästhetikum entwickelt (Barbiturat).
Rasante Entwicklung
Die Verwendung von Äther hielt sich lange. »Auch ich habe noch unter Äther meinen Blinddarm im damaligen Zeller Krankenhaus verloren«, erinnert sich der heutige Senior. 55 Jahre ist das Ereignis her: Eine Schwester stülpte ihm eine schlichte Drahtmaske über Mund und Nase, legte ein Tuch darüber. Dass er laut bis zwanzig zählen solle, wurde ihm beschieden. »Und dann hat’s fürchterlich gerochen«, erinnert sich Heinz Burger an den Moment, als die Schwester Äther auf das Tuch tropfte.
Wenn der Patient beim Zählen immer undeutlicher sprach und schließlich einschlief, wurde das Tropfen beendet. »Das war die einzige Überwachungsmöglichkeit, die man damals hatte«, so der Anästhesist über die heutzutage zumindest hierzulande undenkbare Methode, »und wenn der Patient sich während der OP bewegte, gab man wieder ein paar Tropfen Äther.«
Seither hat die eingangs erwähnte rasante Entwicklung stattgefunden. Da man unter Vollnarkose Sauerstoff benötigt, bestand ein wichtiger technischer Fortschritt beispielsweise in der Beatmung mittels einer – wenngleich noch sehr einfachen – Sauerstoffmaske. Heinz Burger imitiert das Geräusch eines damaligen Blasebalgs, der das Gas aus einem Behälter in die Lunge presste.
Intelligente Maschinen
»Heutzutage sind das Hightechgeräte im Kostenbereich eines ordentlichen Mittelklassewagens«, zeigt er ein Foto einer entsprechenden Anlage. »Als Anästhesist sitzt man da praktisch in einem Cockpit«. Das Gerät beatmet nicht nur den Patienten und überwacht ihn vollständig, mitsamt eines jeden seiner Atemzüge, sondern es kontrolliert auch die Arbeit des Anästhesisten. »Die Maschinen sind so intelligent geworden, das ist gigantisch«, unterstreicht der Mann vom Fach den gewaltigen Anstieg der Patientensicherheit.
Dazu beigetragen, dass »deutlich weniger passiert als früher«, haben überdies Verfahren wie die farbliche Kennzeichnung von Spritzen, Sicherheits-Checklisten, Fehlermeldesysteme, Qualitätskontrolle in der postoperativen Phase, Fortbildungspflicht sowie generell eine verbesserte Ausbildung.
Dass die heutigen Bedenken gegenüber einer Vollnarkose oftmals noch von den vor 30 Jahren herrschenden Bedingungen herrühren, meint Heinz Burger. Und bedauert das Maß an Fehlinformationen ebenso, wie er die Notwendigkeit von Aufklärungsarbeit unterstreicht und dafür einige Zahlen auspackt.
Gab es zwischen 1950 und 1960 noch 3.700 durch Narkose bedingte Sterbefälle in der BRD, so sind es im heutigen Deutschland bei jährlich 10 Millionen Narkose-OPs nur noch 50. Wobei diese Zahl Hochrisiko-Patienten wie Schwerkranke und Senioren im Alter von über 75 Jahre beinhaltet. Nimmt man jene aus der Statistik heraus, sinken die Sterbefälle auf hierzulande 22.
Eine Zahl, die in keinem Verhältnis zum globalen Geschehen steht. Denn weltweit gesehen sind es circa eine Million Menschen, die bleibende Schäden erleiden oder sterben – bei insgesamt 230 Millionen größerer operativer Eingriffe unter Allgemeinnarkose.
»Wir haben das Glück, in einem Land mit einer sehr hohen Patientensicherheit zu leben«, resümiert der Arzt. Dazu gehöre, dass der Patient vor einer OP viele Blätter ausfüllen müsse, »das ist für den Betroffenen nervig, aber extrem wichtig für seine Sicherheit.«
Diese ist neben den bereits erwähnten Faktoren auch den heutigen Anästhesie-Verfahren zu verdanken. Heinz Burger: »Die balancierte Vollnarkose ist das Häufigste, was man heute macht«. Will heißen: Die Dosierung der Narkosemittel wird während der OP variiert, in Abhängigkeit von Eingriffsverlauf und Reaktion des Patienten.
Überdies ist die sogenannte »Parallelnarkose« in Deutschland nicht mehr erlaubt. Ein Anästhesist setzt also niemanden mehr unter Narkose, um mit Eintreten derselben zur nächsten OP zu wandern. Vielmehr »bleibt er immer am Patient.«
Blitzschlag-Risiko
Auch, wenn auch hierzulande eine Anästhesie kein Bonbon sei und ein Restrisiko immer bleibe, resümiert Heinz Burger: »Die Gefahr, direkt durch eine Narkose bedingt zu sterben, ist hierzulande ungefähr so hoch, wie durch einen Blitzschlag zu Tode zu kommen.«
Weniger deutlich reduziert allerdings haben sich die Schäden und Komplikationen unter Narkose. Diese haben vor allem mit dem Patienten selbst zu tun, mit seinen Vorerkrankungen sowie mit seinem Lebensalter. Beispielsweise »immer mehr sehr alte, kranke Menschen« mit einem entsprechend hohen Risiko unterlägen großen Eingriffen, berichtet der Anästhesist.
»Wenn wir früher einen 80-Jährigen im OP-Saal hatten – das war schon was ganz Besonderes.« Heutzutage dagegen sei es keine Seltenheit, wenn ein 90-jähriger Patient wegen eines Oberschenkelhalsbruches operiert werde, »und sogar bei 100-Jährigen macht man inzwischen noch große Eingriffe.«