»Vor der diesjährigen Neugestaltung des Rathausplatzes stand der Weihnachtsbaum immer an der rechten Ecke vor dem Rathaus«, erzählt Ortsvorsteher Ludwig Schütze, »dort war er eigentlich immer ein bisschen im Weg und durfte schon deshalb nicht zu ausladend sein«.
Hinzu kam, dass nicht nur das Nadelkleid eines hohen Tannenbaumes Stürmen eine enorme Angriffsfläche bietet: Auch Narrenbaum und Maienbaum wurden Jahr für Jahr an der Rathausecke aufgestellt. »Es war gar nicht so einfach, diese Bäume in der früheren Halterung so zu verankern, dass sie statisch halten«, weiß Ludwig Schütze nur zu gut. Denn die alte, schätzungsweise aus den 70er- oder 80er-Jahren stammende Halterung war nicht sonderlich tief in den Boden eingelassen.
Die Folge bekam in diesem Jahr der stets von den Unterharmersbacher Hexen aufgestellte Narrenbaum zu spüren. Ein Sturm hebelte ihn mitsamt der im Boden eingelassenen Hülse zur Seite, so dass er »ganz schräg stand« und mit dem Traktor zurückgeschoben werden musste. Mit solcherlei Kalamitäten ist nun jedoch Schluss.
Dafür sorgt eine neue, wesentlich tiefer in den Boden eingelassene Halterung. »So etwa eineinhalb bis zwei Meter tief«, schätzt das Ortsoberhaupt, »da sind wir jetzt auf der sicheren Seite, sie verträgt glaube ich Bäume bis zu einer Höhe von 20 Metern.«
Einen erstmals richtig stattlichen Weihnachtsbaum konnte man dieses Jahr daher aufstellen. Das einzige Manko: Weil der obere Teil der Halterung nun über einen Meter aus dem Boden ragt, müssen die Nadelzweige bis zu dieser Höhe abgeschnitten werden, stattdessen dienen sie zur
Kaschierung der Haltevorrichtung.
Einen großen, beleuchteten Weihnachtsbaum auf dem Rathausplatz – das gab es in Schützes Kindheit nicht. Umso besser kann sich der 1955 Geborene daran erinnern, dass hier dereinst Weihnachtsbäume verkauft wurden. Und zwar auf dem ehemaligen Anwesen »Schilli«, beim Rathaus direkt neben der Apotheke.
Schlangenstehen auf dem Rathausplatz
Der damalige Hausbesitzer arbeitete bei der Gemeinde und die wollte unterbinden, was in den 50er- und frühen 60er Jahren hier in der Region üblich war: Dass nämlich jedermann vor Weihnachten loszog, um sich nach Belieben seinen Tannenbaum zu schlagen, sei es im Gemeindewald oder auf dem Gelände von Privatwaldbesitzern. »Auch mein Vater handhabte das so«, erinnert sich der in Unterharmersbach Aufgewachsene – ebenso wie daran, dass er seinen Vater ab den 60er Jahren zum Anwesen Schilli begleitete. Denn dort verkaufte die Gemeinde nun Weihnachtsbäume zu sehr erschwinglichen Preisen, bis in die Anfänge der 70er- Jahre hinein.
»Der Förster stand dann mit der Kasse da, das weiß ich noch gut, so ein Baum kostete eine Mark oder eine Mark fünfzig.« Doch auch, wenn solche Preise heutzutage spottbillig erscheinen: »So was ist immer relativ«, verweist der pensionierte Studiendirektor auf die damaligen, im Vergleich zu heute völlig anders gelagerten finanziellen Verhältnisse und Lebensumstände.
Bis man den Baum allerdings in den Händen hielt, benötigte man ein wenig Geduld. »Auf dem Rathausplatz stand immer eine riesige Menschenmenge, da stand man dann an«, erzählt Ludwig Schütze, »und dann ging irgendwann das Tor zum Hof vom Anwesen Schilli auf und man ging rein und hat zwischen den vielen Weihnachtsbäumen geguckt.«
Was nicht immer unbedingt einfach war, wie eine Anekdote beweist: Der zufolge hatte sich Vater Schütze drei besonders schöne Bäume ausgesucht, sie zum Vergleich nebeneinander an die Hauswand gestellt und war einige Schritte zurückgetreten, um nach ausführlicher Begutachtung zu entscheiden, welches Exemplar denn wohl das schönste sei.
»Da kam jemand vorbei und rief hoch erfreut: »Ohhh, hier stehen aber drei schöne Bäume«, bricht Sohn Schütze noch heutzutage in herzhaftes Gelächter aus, »von den drei Prachtexemplaren waren dann gleich mal zwei weg – da war der Vater froh, dass ihm noch einer von den drei Bäumen blieb.«
Zu Fuß nach Hause getragen
Um Fichten handelte es sich stets – um Bäume also, die im Christbaumständer rasch ihre Nadeln verlieren, »damals hatte man noch keine Nordmanntannen, diese Edeltannen mit ihren weichen, lang haftenden Nadeln gab es hier noch nicht.« Auch war es noch längst nicht die Zeit, dass Weihnachtsbäume zur Vereinfachung des Transports eingenetzt wurden. Sperrig und pieksig wie die Fichten waren, wurden sie obendrein zu Fuß ins traute Heim getragen – durchaus lange Wege galt es dabei zu bewältigen.
Rund ein halbes Jahrhundert her ist das nun alles. Geschichte auch das Anwesen Schilli: Von der Stadt Zell erworben, wurde es im März 2017 abgerissen, so dass das Grundstück in die Gestaltung des Rathausplatzes eingebunden werden konnte. »Ob der früheren baulichen Gegebenheiten hatten wir eigentlich immer nur einen halben Rathausplatz«, so Ortsvorsteher Schütze, »aber nun haben wir historisch zum ersten Mal von der Straße aus den vollen, unverstellten Blick auf das Rathaus – und damit auch auf den Weihnachtsbaum«, freut er sich.
Skihersteller in Unterharmersbach
Was seine schönste Kindheitserinnerung an Weihnachten ist? »Das Fest war für mich immer sehr schön«, lautet seine Antwort, »aber am schönsten war es dann, wenn’s geschneit hat.« Ganz genau erinnere er sich daher an ein Weihnachten, als es pünktlich am Heiligen Abend anfing zu schneien, »zwölf Jahre alt muss ich damals gewesen sein, das war für mich ein besonders schönes Weihnachten.«
Überdies sei es »das Highlight« gewesen, wenn man als Kind zu Weihnachten ein Paar Skier bekommen habe – und zwar von der Unterharmersbacher Fabrikation Kern, in deren ehemaliger Werkstatt sich heutzutage eine Lackiererei befindet. Ludwig Schütze: »Viele wissen das gar nicht mehr, dass wir hier im Dorf mal einen Ski-Hersteller hatten.«
Abwegig war das keinesfalls. Denn zum einen »hatten wir damals hier in Zell genügend Schnee. Zum anderen war es damals nicht üblich, dass man für den Wintersport wegfuhr.« Zum Skifahren konnte sich der heutige Senior praktisch gleich hinter seinem – heute von ihm selbst bewohnten – Elternhaus in der Blumenstraße auf den Weg machen. »In dem Gewann Richtung Knopfholz waren wir als Kinder immer mit den Skiern unterwegs, da haben wir uns alle getroffen und uns die Abfahrt selbst gebahnt.«
Schlittenfahren mit Taschenlampe und »Gerte«
Ebenfalls in unmittelbarer Nachbarschaft zum Elternhaus wurde den ganzen Winter über Schlitten gefahren: Auf der Bind. Dort, wo heute die »Neue Bindstraße« an den Klosterbräustuben steil hoch Richtung Bergstraße führe, habe sich früher ein Feldweg befunden, in völlig unbebautem Gelände. »Da lag immer Schnee«, erzählt Ludwig Schütze, »dort haben sich immer zwischen acht und fünfzehn Kinder vom Wiesenfeld getroffen – vor allem auch abends, mit Taschenlampe.«
Mit der Besonderheit zudem, dass man nicht mit den Füßen lenkte, sondern mit einer »Gerte« genannten Bohnenstange aus dem Garten. Einen solchen Stecken von jeweils drei bis vier Metern Länge klemmte sich jedes Kind in Längsrichtung unter den Arm. »Diese Stange hatte einen enormen Steuerungseffekt, aber gebremst hat sie kaum. So dass wir, wenn wir auf der Bind fuhren und es ganz gute Verhältnisse waren, bis zur heute noch existierenden Metzgerei Herrmann runterkamen, denn damals war das ganze Gebiet ja noch nicht verbaut – über die Bahnschienen drüber, da gab’s keine Lichtanlage und nix.«
Noch besser sei es vom oberen Ende der heutigen Wiesenwaldstraße gegangen, »die war noch nicht geteert in meiner Kindheit. Von dort oben sausten wir runter bis hinter die Wallfahrtskirche, also bis zum Anfang der Hauptstraße.« Was nach einer Kamikaze-Aktion klingt, hat Ludwig Schützes Erinnerung nach jedoch nie zu ernsthaften Verletzungen geführt. Wobei der Familienvater betont: »Einen Fernseher hatte damals kaum jemand. Als Kind ein Stubenhocker zu sein, das war nicht üblich – man war draußen.«





