Wer in Zell einen Zuchtbullen halten wollte, brauchte Genehmigungen, Versicherungen und das richtige Futter. Die Behörden kontrollierten alles – von der Klauenpflege bis zur Zahnzahl. Doch die Bauern hatten ihre eigenen Probleme: zu wenig Geld für genug Stiere, mittellose Kriegerwitwen und geografische Bedingungen, die so manche Vorschrift ad absurdum führten. Teil 3 unserer Serie über Landwirtschaft und Veterinärwesen in Zell.
Von Dr. Wolf-Dieter Geißler
Der Blick in die alten Rinderzuchtakten des Stadtarchivs Zell zeigt: Von romantischer Landwirtschaft war in der „guten alten Zeit“ wenig zu spüren. Stattdessen herrschten strenge Vorschriften, straffe Kontrollen und regelmäßiger Streit über die Fütterung. Wer damals einen Zuchtbullen – oder wie man sagte: Farren – halten wollte, musste Formulare ausfüllen, Regeln einhalten und nachweisen, dass sowohl Klauenpflege als auch Futterzusammensetzung den Vorgaben entsprachen.
Gekört, gezählt, geprüft
Nur wer einen gekörten Bullen besaß, durfte ihn zur Zucht einsetzen. Die Tiere mussten dem jeweiligen Zuchtziel entsprechen. Eine Entscheidung, die vor Ort auf sogenannten „Gaufarrenpreiskrönungsschauen“ getroffen wurde. Staatliche Prämien gab es dort ebenso wie Ehrenurkunden – wenn alles den Anforderungen genügte. Die Beurteilungen fanden meist auf öffentlichen Viehmärkten unter strengen Regeln statt: Ein fester Boden in Form einer Musterungsplatte zur exakten Vermessung war Pflicht. Bei Regen musste ein überdachter Raum bereitstehen. Für den Protokollführer waren Tisch, Stuhl, Schreibmaterial und Tintengeschirr vorzuhalten.
Formulare, Zahnschaufeln und Tuberkulin
Tierbesitzer mussten sogenannte Reversformulare ausfüllen – schriftliche Erklärungen, mit denen sie sich zur ordnungsgemäßen Haltung ihrer Zuchtbullen verpflichteten. Die Tiere durften nicht älter als etwa vier Jahre sein, gemessen an der Zahl der Zahnschaufeln, von denen maximal sechs erlaubt waren. Zudem waren ein Nasenring und ein negativer Tuberkulintest vorgeschrieben. Auch ein Gesundheitszeugnis musste vorgelegt werden.
Ab dem Jahr 1912 konnte bei günstiger Seuchenlage auf das Zeugnis verzichtet werden. Allerdings nur, wenn der Bulle direkt vom Bauern angeliefert wurde. Für Händler galt diese Ausnahmeregelung ausdrücklich nicht.
Zell unter Soll: Zu wenig Stiere
Die Zuchtvorgaben verlangten, dass für je 100 Kühe oder sprungfähige Kalbinnen mindestens ein Stier in der Gemeinde vorhanden sein muss. Im Jahr 1862 hatte Zell 277 Kühe und Kalbinnen – aber aus Kostengründen nur zwei Stiere. Drei Deckbullen wären vorgeschrieben gewesen. Ärger war die Folge.
Seuchenjahr mit Nebenwirkungen
Am Ende des Jahres 1899 wurden sämtliche Prämierungen wegen eines Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche auf das folgende Jahr verschoben. In den Akten heißt es zudem, dass die Haltung der Farren in Zell und die Aufsicht durch die Farrenhalter vom Bezirksverein beanstandet wurde. Besonders häufig kritisiert wurde die mangelhafte Klauenpflege.
Was ein Bulle kostet
Ein Kaufvertrag aus dieser Zeit berichtet vom Erwerb eines 15 Monate alten, gelb gefleckten Zuchtfarren der Rasse Simmentaler Rotfleck für 1.150 Mark. Im Jahr 1905 lag der Preis für einen gekörten Jungbullen derselben Rasse, dem Simmentaler Oberbadischen Fleckvieh, bei 500 bis 800 Mark.
Doppeljoch bleibt trotz Verbotsempfehlung
Schon 1888 wurde vorgeschlagen, das sogenannte Doppeljoch durch andere Bespannungsarten aus Gründen des Tierschutzes zu ersetzen. Wer auf das Doppeljoch verzichtete, konnte bei staatlichen Prämierungen für Zuchtvieh mit finanzieller Unterstützung rechnen. Doch das Projekt scheiterte: Die geografischen Bedingungen des Schwarzwalds ließen kaum Alternativen zu. Nur das Doppeljoch – die feste Verbindung von zwei Zugtieren mit einem Gefährt, meist einem Schlitten – bot Sicherheit im steilen Gelände.
Verbotene Technik, erlaubte Ausnahme
Nach der Machtergreifung 1933 durch die NSDAP wurde das Doppeljoch grundsätzlich verboten. Andere Bespannungsarten, wie etwa das Kummetgeschirr, mussten auf eigene Kosten angeschafft werden. Doch das funktionierte nicht: Erstens ließen sich Gefährte im steilen Gelände nicht mehr bremsen. Zweitens bewirtschafteten viele kleinere Höfe – die meisten in der Region – nur noch Kriegerwitwen aus dem Ersten Weltkrieg. Diese hatten schlicht kein Geld für neues Geschirr.
Die Lösung war typisch verwaltungstechnisch: Man stellte Ausnahmegesuche beim Bürgermeister. Die Genehmigung zur Nutzung des Doppeljochs wurde jeweils für ein Jahr erteilt und regelmäßig verlängert. Faktisch blieb das Verbot bestehen, aber im Schwarzwald galt es kaum.
Zuchtziel trifft Gemeindekasse
Ab etwa 1862 bemühten sich Bezirkstierärzte und Körkommissionen, die Rinderzucht durch gezielte Auslese wesentlich zu verbessern im Hinblick auf Körperbau und Leistungsfähigkeit. Das stieß auf Widerstand: Die Gemeinden, zuständig für Haltung und Finanzierung, lehnten teure Maßnahmen ab.
Was ein Bulle fressen muss
Deshalb wurde per Vorschrift – im Zweifelsfall sogar vertraglich – geregelt, wie Haltung, Fütterung und Austausch der Zuchtbullen (man nannte sie auch Wuchertiere) zu erfolgen hatte. Ganz oben auf der Mängelliste stand falsche Fütterung. Es durfte nicht ausschließlich billiges Heu gegeben werden, sondern auch Getreide – vor allem Hafer, aber auch Gerste und Roggen. Damit die Tiere die Nährstoffe besser verwerten konnten, musste das Futter geschrotet oder gequetscht sein.
Pflichtenheft für Haltung und Sicherheit
Neben der richtigen Fütterung war auch die Pflege und Haltung der Zuchtbullen streng geregelt. Die Klauen mussten regelmäßig gepflegt, der Standplatz stets sauber und trocken gehalten werden. Ein Nasenring war Pflicht – schon aus Gründen der Sicherheit– und der Bulle musste daran gewöhnt sein. Private Bullen durften nur dann bei fremden Kühen eingesetzt werden, wenn sie gekört waren. Der Einsatz nicht gekörter Bullen zur Zucht war ausdrücklich untersagt.
Für alle Zuchtbullen mussten zudem eine Feuerversicherung, eine Haftpflicht- sowie eine Unfallversicherung abgeschlossen werden. Auch eine jährliche Berichterstattung über Haltung und Einsatz des Tieres war vorgeschrieben.
Nur noch Simmentaler
1896 wird in Offenburg die Gründung einer Rindvieh-Zuchtgenossenschaft für den Amtsbezirk Offenburg gegründet, die die Vereinsbezirke Offenburg und Gengenbach umfasst. Es wird die Verpflichtung übernommen, künftig nur rassereine Simmentaler Farren anzuschaffen.
Eiweiß aus der Verwertung
Ab etwa 1920 wird Tierkörpermehl aus der Kadaververwertungsanstalt an die Bauern als hochwertiges eiweißreiches Futtermittel abgegeben. Eine Gefahr für die allgemeine Gesundheit bestand nicht, da die Vorschriften zur Herstellung penibel eingehalten wurden.
Mehr Freiheit für die Farrenhaltung
Am 15. Oktober 1929 wird in einem Farrenhaltungsvertrag festgehalten, dass in Zell drei Farren gehalten wurden. Ab 1934 war es erlaubt, Farren auf eigene Rechnung privat an- und zu verkaufen – es genügte eine formlose Anzeige bei der Gemeinde.
Fleischpreise in Pfennigen
Im Januar 1912 notierte der Offenburger Metzgermeister Beck die damals gültigen Fleischpreise: Das Pfund Kalb- und Rindfleisch kostete jeweils 85 Pfennige, Schweine- und Hammelfleisch lagen bei 80 Pfennigen, und das teuerste Fleisch war vom Ochsen – mit 90 Pfennigen pro Pfund.
Quellen:
Stadtarchiv Zell am Harmersbach
VII. Landwirtschaft, Tierzucht, Veterinärwesen
Akten: Tierzucht Veterinärwesen No. 2–4 (1862–1949)
Akten VII.3.Tierzucht Nr. 6 (1888–96) und folgende
Begriffe und Hintergründe
Zahnschaufeln
In historischen Zuchtunterlagen taucht immer wieder der Begriff „Zahnschaufeln“ auf. Gemeint sind damit die Schneidezähne im Unterkiefer von Rindern (im Oberkiefer besitzen Rinder keine Schneidezähne, sondern eine Dentalplatte aus verhornter Schleimhaut). Anhand ihres Durchbruchs lässt sich relativ zuverlässig das Alter eines Bullen bestimmen: Mit etwa 2 bis 2,5 Jahren erscheinen die ersten bleibenden Schneidezähne. Danach folgen – je nach Zahnstellung – weitere Paare im Abstand von etwa einem dreiviertel bis einem Jahr. Hat ein Tier sechs Schaufeln, ist es ungefähr 3,5 bis 4 Jahre alt. Bei acht Schaufeln (alle Schneidezähne vollständig) ist es etwa 4 Jahre alt. Damit galt es oft schon als zu alt für bestimmte Zuchtzulassungen.
Tierkörpermehl
Früher galt Tierkörpermehl als wertvolles, eiweißreiches Futtermittel – auch in Zell wurde es ab etwa 1920 an Landwirte abgegeben. Seit 1994 ist die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer in der EU verboten, seit 2001 gilt das Verbot für alle Nutztiere. Hintergrund ist die BSE-Krise der 1990er Jahre. Damals wurde bekannt, dass durch Tiermehl infektiöse Eiweiße (Prionen) übertragen werden können. Heute wird Tiermehl daher meist thermisch verwertet, etwa als Brennstoff in Zementwerken, oder industriell genutzt, etwa zur Biodieselherstellung.