»Das ist unsere wunderschöne Dorfkirche« – Siggi Erdrich steht vor den Bänken und lässt den Blick durch die Kirche wandern. Mit dieser kennt er sich aus, bis vor eineinhalb Jahren noch führte er Gästegruppen durch das Dorf.
Über sechs Kilometer hinweg liegen die Häuser des rund 2000-Seelen-Dorfes an der Talstraße in den engen Seitentälern und auf den Höhen verstreut – wobei das Gemeindeareal ein Höhengebiet von 255 bis 878 Meter über Normalnull abdeckt.
In dieser Topografie markiert Nordrachs »kleines Münster« das Zentrum des idyllisch abgelegenen Waldortes. Der wurde 1139 erstmals urkundlich erwähnt und gehörte zum Kloster Gengenbach, das Anfang des 1300 Jahrhunderts von König Heinrich VII. mit der Rodung und Siedlung in den ausgedehnten Klosterwäldern beauftragt wurde.
»Unsere St.Ulrich-Kirche ist noch relativ jung«, betont Siggi Erdrich: »1904 haben italienische Steinmetze aus Südtirol den Rohbau der Kirche innerhalb von drei Jahren erstellt – inklusive Chorturm von 60 Metern Höhe.« Und zwar im neugotischen Stil.
In der gotischen Architektur symbolisieren Kirchen Gottesnähe, indem sie dem Himmel zuzustreben scheinen. Dazu baute man die Mittelschiffe enorm hoch, was eine neuartige Bauweise ermöglichte: die Schiffe wurden mit wuchtigen Kreuzrippen überwölbt. Das nicht minder enorme Gewicht dieser Gewölbe leitete ein aufwändig gestaltetes Strebewerk ins Erdreich.
Während die Epoche der Gotik sich von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis um 1500 erstreckte, hatte die auf sie zurückgreifende – und das Mittelalter idealisierende – Neugotik ihre Blütezeit von 1830 bis 1900. Der historisch interessierte Konditormeister zeigt auf die nach oben hin spitz zulaufende Form der Kirchenfenster: »Jedes Fenster – auch die Oberlichter – hat eine andere Form, was die steinernen Verzierungen und die Anordnung der kreisrunden Fischblasen betrifft.«
Dieses sogenannte Maßwerk, mit der die filigrane Arbeit von Steinmetzen bezeichnet wird, ist typisch gotisch. Es diente der Stabilisierung der immer großflächiger gewordenen kirchlichen Buntglasfenster, die andernfalls beispielsweise Winddruck nicht Stand gehalten hätten. Wobei das feine Maßwerk in der Regel mit Eisendübeln stabilisiert werden musste, einfaches Vermauern mit Mörtel reichte nicht aus.
Taufstein aus alter Kirche
»Schräg zwischen den Stufen der heutigen Sakristei und dem Hauptgang zum Friedhof lag die alte Kirche«, ist in einer 1978 von Adalbert Ehrenfried verfassten Infobroschüre zu lesen. Doch auch wenn diese alte Kirche »schon früh erwähnt wurde«, so lässt sich nicht mehr feststellen, wann sie erbaut wurde. Von dem ehemaligen Gotteshaus ist heutzutage lediglich der Taufstein vor dem Marienaltar übrig geblieben.
Was die Nordracher Pfarrkirche mit ihren 800 Sitzplätzen unter anderem so besonders macht: Da der Flusslauf und damit das Tal nach Norden gerichtet ist, ist St. Ulrich »eine der wenigen Kirchen überhaupt, die nach Nord-Süd gebaut ist«, erläutert Erdrich, »sie liegt genau auf der Achse Nord-Süd«.
Normalerweise hingegen wurden Kirchen »geostet«. Sprich: Der Kirchenbau wurde entweder nach dem tatsächlichen oder auch nach dem bautechnisch günstigsten Aufgangspunkt der Sonne ausgerichtet – wobei die Richtung des Sonnenaufgangs in Mitteleuropa zwischen Sommer- und Wintersonnenwende um mehr als 45 Grad nach beiden Seiten variieren kann. Der Sinn der Ostung lag hauptsächlich darin, dass die Altarseite respektive das Presbyterium, die Seite des Chors also, für den Frühgottesdienst im Morgenlicht stehen sollte.
Renovierung gut überstanden
70 Jahre nach ihrer Erbauung stand eine Renovierung von St. Ulrich an. In den 1960ern habe der Trend bestanden, bei Renovierungen die Kirchen »zu vereinfachen«, so Siegfried Erdrich. Von einer Dorfkirche im Bodenseeraum erzählt er, »da waren die Wände komplett mit Ornamentik bemalt, das hat man alles zugekleistert« – um später festzustellen, dass es sich um uralte, wertvolle Gemälde handelte, »die hat man dann mühsam und mit hohen Kosten wieder freigelegt.«
Auch in Nordrach drohte Raubbau. Beispielsweise die wunderbaren farbigen Glasfenster, die bei Sonneneinfall für ein einzigartiges Licht im Inneren der Kirche sorgen, sollten zumindest teilweise herausgenommen werden. Dieses Vorhaben setzte man glücklicherweise nicht um. Auch die für diese Kirche so charakteristischen, aus Holz geschnitzten Apostelfiguren sollten verschwinden – doch noch immer schmücken sie als »Säulen der Wahrheit« das Langhaus: auf Konsolen, mit Baldachinen bekrönt und zumeist an ihren Marterwerkzeugen zu erkennen.
Volksheld als Schutzpatron
»Inzwischen gibt es in Baden-Württemberg ein Gesetz, das alle Kirchen, die älter sind als 100 Jahre, unter Denkmalschutz stellt«, erläutert Siggi Erdrich. Was er mehr als begrüßt, »denn unsere Vorfahren haben ja in den Kirchen gewirkt.« Den Kirchenglocken jedoch blieb – wie nahezu allüberall in Deutschland – nichts, als »dran glauben«: Sie mussten jeweils im Ersten und im Zweiten Weltkrieg an die Rüstungsindustrie zum Einschmelzen abgeliefert werden, nur eine einzige blieb erhalten. Das jetzige Geläute besteht aus vier Glocken, im Jahre 1950 gegossen.
Stets erklingen sie auch zu Ehren des Heiligen Ulrich. Der später Heiliggesprochene wurde 890 in Dillingen geboren und 923 zum Bischof ernannt. Er wirkte mit hohem sozialen Engagement und großer sozialer Verantwortung, kümmerte sich um Arme und Kranke, sorgte für Klöster und Geistliche. Wegen seiner Mildtätigkeit und Bescheidenheit wurde er als Volksheld verehrt, gilt als Schutzpatron der Fischer, Winzer und Weber sowie generell als Beschützer in allerlei Lebenslagen. Als zugleich Schutzheiliger Nordrachs ist der Kirchenpatron nicht nur in der Pfarrkirche, sondern auch auf dem Ortswappen zu sehen. »Im süddeutschen Raum ist seine Verehrung überall weit verbreitet«, weiß Siggi Erdrich, vor allem auch in den Alpenregionen finden St. Ulrich zu Ehren Prozessionen statt.





