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Biberach | 29.03.2018

»Das ist doch nicht normal, oder?«

Jedes Kind entwickelt sich in seiner eigenen Geschwindigkeit

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Nach dem Vortrag: Fragestunde im Chorsaal der St. Blasiuskirche. Foto: Inka Kleinke-Bialy
von Inka Kleinke-Bialy

Zum dritten Mal bereits hat Erika Rieger im Namen des katholischen Bildungswerks Biberach Christof Wettach aus Lahr eingeladen: den mit verschmitztem Humor gesegneten Doktor der Kinder- und Jugendmedizin. Diesmal um das altersgerechte Können oder Nichtkönnen eines Kindes ging es in der vergangenen Woche im Chorsaal der Pfarrkirche St. Blasius.

Foto: Inka Kleinke-Bialy
Zu dem Thema »Das ist doch nicht normal, oder?« referier-te der promovierte Kinder- und Jugendmediziner Christof Wettach.
Foto: Inka Kleinke-Bialy
Nach dem Vortrag: Fragestunde im Chorsaal der St. Blasiuskirche.

»Das Thema ist spannend, denn nicht jedes unserer Kinder überlegt sich, ob es normal ist, was es da so macht«, bringt Christof Wettach seine Zuhörer mit feiner Ironie zum Schmunzeln, »und es ist gar nicht so einfach zu sagen, was normal ist und was nicht.«

Denn zusätzlich zu einer gewissen Verunsicherung der Eltern selbst gibt es »allerlei Leute, die einem reinreden«, weiß der Familienvater auch aus eigener Erfahrung. Ob Verwandtschaft, Erzieher, Lehrer: »Jeder hat seine Erwartungen an ein Kind.«

Was also ist normal? Dass ein dreijähriges Kind keine Farben kann? Ein 16-monatiges nicht durchschläft? Ein Kleinkind alle zwei Wochen krank ist? Ein siebenmonatiges läuft? Ein dreijähriges uns Erwachsene im Memory besiegt?

Jawohl, all das ist normal! Ebenso normal, wie wenn ein Kind erst mit 20 Monaten läuft oder erst mit fünf Jahren drei Farben kennt. Auch gibt es Kinder, die – zum Glück der Eltern – bereits mit zwei Wochen durchschlafen, sich mit einem Dreivierteljahr dann aber alle zwei Stunden nachts melden. Darüber hinaus werden Kleinkinder in der Regel zehn bis zwölf Mal im Jahr krank, allerdings nicht regelmäßig übers Jahr verteilt. Hier gilt: »Die Abwehr wächst mit ihren Aufgaben, alle Standardviren müssen erst mal durchgearbeitet werden.«

Zweijährige schlauer als Erwachsene

Und was das Memoryspielen betrifft: »Zwei- bis Dreijährige sind in manchem schlauer als wir Erwachsene«, betont der Arzt, »weil sie den ganzen Tag alles beobachten und abspeichern.« Ein Zweijähriger weiß daher ganz genau, wo was im Haus liegt und wo der Schlüssel ist,
den Mama oder Papa verlegt haben.

Die meisten laufen zwar mit zwei und sprechen mit drei Jahren. Und wenn sie mit sechs Jahren eingeschult werden sollen, müssen sie bestimmte von der Schule vorgegebene Dinge können. »Ob diese immer so richtig sind, kann man jedoch unterschiedlicher Meinung sein«, so Christof Wettach.

Denn nicht nur ist die Entwicklung von Kind zu Kind unterschiedlich – vielmehr »sind es über die Jahre immer mal wieder Zeiten, wo man sich langsamer oder schneller entwickelt.« Es gibt also ein breites Feld dessen, was »normal« ist. Deswegen könne man auch nie aus einer Beobachtung, aus einer Vorsorgeuntersuchung etwas über die zukünftige Entwicklung eines Kindes sagen: »Das ist nur über die Jahre möglich, wenn man den Kurvenverlauf aus mehreren Beobachtungen betrachtet – das ist nicht anders als beim DAX.«

Nur zehn Prozent sind auffällig

Was dabei normal ist, das geben aufgrund großangelegter Untersuchungen für jedes Alter die Kinder vor, nicht die Erwachsenen, wie Christof Wettach betont. Wobei ausgewählte Kinder jeweils über viele Jahre hinweg untersucht werden. Daraus ergibt sich eine die Normalverteilung abbildende Gauß’sche Kurve, der zufolge lediglich jeweils etwa fünf Prozent der Kinder als zu langsam respektive zu schnell in ihrer Entwicklung gelten.

Nur diese »auffälligen« Kinder sind es, die dem Mediziner zufolge eine Förderung oder Therapie benötigen. Um sie herausfiltern zu können, »setzen wir Grenzsteine der Entwicklung, die 90 Prozent der Kinder in einem bestimmten Alter erreichen – was über das spätere Leben aber nicht unbedingt etwas sagt«, macht der Arzt klar.

Diese aufgrund der Messungen gesetzten Grenzsteine für die unterschiedlichen Vorsorgeklassen wurden im letzten Jahr für den gesam-ten deutschsprachigen Raum festgelegt. Und zwar von IVAN, der interdisziplinären, verbändeübergreifenden Arbeitsgruppe für Entwicklungsdiagnostik.

Das von ihr erstellte Konzept zur frühzeitigen Erfassung von Entwicklungsauf­fälligkeiten und -störungen werde in den nächsten Jahren zunächst in den Kindergärten eingeführt, erklärt Wettach, für das Schulalter hingegen gebe es noch keine ausreichenden Untersuchungen.

Ursachensuche

Das dreistufige Diagnostikmodell beinhaltet Untersuchungen, um den Grund für das Fehlen bestimmter Fertigkeiten herauszufinden. Das wiederum ermöglicht eine frühzeitige und adäquate Behandlung – von einer bis dato unerkannten Hirnblutung. Oder von einer Hornhautverkrümmung, die dafür sorgt, dass ein Kind sich beim Treppenlaufen noch festhält, obwohl es das in seinem Alter nicht mehr tun sollte. Um nur zwei Beispiele zu nennen.

Für Kinder, welche die Grenzsteine der Entwicklung nicht erreichen, steht eine Vielzahl unterschiedlichster Therapien zur Verfügung. Allerdings warnt der Arzt: »Alles, was wir an Kindern unnötigerweise behandeln, schwächt das Selbstbewusstsein.« Es gelte daher, ein Kind »als Ganzes« anzuschauen und sehr genau abzuwägen, ab wann nachgeholfen werden müsse.

Aufzuhören, immer nur auf die Fehler zu schauen, rät der Arzt daher dringend. »Manchmal muss man einfach entspannt sein und dem Kind die Zeit geben, die es braucht«, unterstreicht er. Umso mehr, als ein Kind – wie ein Erwachsener meist auch – »Dinge nicht mehr so gut macht«, sobald es unter ständiger Beobachtung steht.

Grundlegend hierbei: Enge Bindungen zu Erwachsenen sind eine Voraussetzung für lernfähige Gehirne, für eine starke Vernetzung von deren Nervenzellen also. »Wir lernen von denen, die wir lieben«, wusste schon der Dichterfürst Goethe, »für die machen wir alles«, setzt Christof Wettach hinzu. Deswegen sei auch später in der Schule eine gute emotionale Anbindung zum Lehrer so wichtig.

Ohne Freude kein Lernen

Und: Die fürs Lernen unabdingbaren neuronalen Verknüpfungen entstehen nur bei dem, was einem Kind Spaß macht. Bestimmte Botenstoffe sind dafür verantwortlich, wie man heutzutage weiß. Im Schnitt unglaubliche 100 Mal pro Tag begeistert sich ein Dreijähriger. Bei einem Erwachsenen sind es bescheidene drei Mal – jedoch nicht am Tag, sondern im Monat!

Nicht von ungefähr wissen Abiturienten nach sieben Jahren im Schnitt nicht einmal mehr fünf Prozent dessen, was sie in der Schule gelernt haben. »Aber alles, was uns interessiert, wissen wir auch noch nach zehn Jahren«, verweist der Arzt auf individuelle Kenntnisse, die ein Hobby betreffen.

Tatsächlich weist das Gehirn eines Zweijährigen eine stärkere Vernetzung auf als das eines Erwachsenen. »Ein Kind will über sich hinauswachsen, es will lernen«, hebt Christof Wettach die Bedeutsamkeit beispielsweise des Selbermachen-Lassens hervor. «Alles, was ich selber mache, begreife ich auch«, erklärt er. Daher rauben wir Vier- bis Sechsjährigen rund 2.000 Stunden motorisches Üben, wenn sie sich aus Zeitgründen nicht selbst anziehen dürfen. Überdies muss zu Lernendes mit Bildern verknüpft werden können. Denn alles, was wichtig ist, wird über Bilder im Gehirn gespeichert.

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