Nordrach-Kolonie. »Ich erscheine all denjenigen, die weder Angst noch Furcht vor mir haben, ob bei Tage, oder bei Nacht« – diese Worte machte der Nordracher Moospfaff bei einer Nachtwanderung mit Sabine Boschert wahr.
Noch ist es hell, doch die Dämmerung wird bald hereinbrechen – und dann die Nacht. Fast 30 erwartungsvolle Wanderer haben sich eingefunden, sind von Sabine Boschert mit Laternen ausgestattet worden.
»Wir werden uns garantiert verlaufen«, tut sie zur Begrüßung als erstes kund. Ein mit Gelächter quittierter Spaß, natürlich, denn die gebürtige Nordracherin kennt die Gegend und damit auch das Gebiet der Moos wie ihre Westentasche, agiert seit vielen Jahren zudem als Wanderführerin. Und das Wetter? Das könnte passender nicht sein angesichts des Umstandes, dass hier hinten im abgelegenen Nordrach-Kolonie doch tatsächlich ein Untoter seinen Schabernack treiben soll: ein tiefer, grau verhangener Himmel hat den ganzen Tag bereits mit Dauerregen gedroht. Doch erst jetzt, wo die Wanderer sich um Sabine Boschert sammeln, beginnen die ersten Tropfen zu fallen. Zum Glück nur schwach wird es von nun an regnen, teilweise auch lediglich nieseln, beinahe mystisch ist die Stimmung.
Entsprechend unwirklich scheinen die pink- und violettfarbenen Blüten der Fuchsiensträucher, die – in teils riesige Töpfe gepflanzt – die schmale Straße säumen: das leidenschaftlich gepflegte Hobby eines Anwohners hinter der Klausenbach-Klinik. Bald hat die Wandergruppe das ansprechend renovierte Gebäude des früheren Lungensanatoriums, das im Jahr 1891 Nordrachs Tradition als Luftkurort begründete, hinter sich gelassen und wird von Boschert links in den Wald geführt.
Sehr bald sind tiefe Atemzüge nötig. Von der einen oder anderen Stirn laufen die ersten Schweißtropfen – die Regenkleidung ist warm, der Abend mild, und der Weg steigt stetig an. Boscherts Aufforderung zu einem Halt kommt da nicht ungelegen. Wobei man erfährt, dass dieser sechs Kilometer von Nordrach-Dorf entfernte Ort seinen Namen von den Arbeiterkolonnen erhalten hat, die in der Abgeschiedenheit des Hintertales in einer Glasfabrik arbeiteten. Die war 1690 auf Geheiß des 94. Abts der Reichsabtei Gengenbach errichtet worden. Denn einem Mönch war es damals gelungen, sehr reines Glas herzustellen. Haushaltswaren wurden gefertigt, die reichlichen Absatz auch im Ausland fanden – in Spanien, Italien und Frankreich. Die aus Steinen aufgesetzten alten Mauern jedoch, die hier und da in den Hängen zu sehen sind, stützten einst Wege, auf denen die Tuberkulosekranken des späteren Lungensanatoriums durch die heilsame Luft wandelten.
Früher kein Vergnügen
Weiter geht es durch den Wald. Jemand findet einen Steinpilz, die roten Kappen von Fliegenpilzen leuchten. Unter den Baumkronen nimmt das Abendlicht derart rasch ab, dass es Zeit ist, die Laternen anzuzünden. Einige werden mit Petroleum betrieben, dessen Geruch die Luft erfüllt. Zwischen dem warmen Feuerschein aber leuchtet vielfach das helle Licht moderner LED-Laternen. Bald wird der Weg so schmal, dass es gilt, achtsam hintereinander zu laufen, dem Licht des Vordermannes oder der Vorderfrau zu folgen. Dabei ist zu ahnen, wie beschwerlich es früher war, im schwachen Licht einer Laterne auf unbefestigten Pfaden in Dunkelheit unterwegs zu sein, mit unzureichendem Schuhwerk und ohne Nässeschutz – »ohne Taschenlampe und ohne Goretex«, meint eine Wanderin, »das war garantiert kein Vergnügen.«
Zu Sanatoriumszeiten unbewaldet
»Früher war hier alles offen, da gab’s keinen Wald«, erzählt Sabine Boschert. Sie erzählt auch davon, wie ihr Vater hier Kartoffeln angebaut und mit dem Handwagen heimgebracht, sie ihm als Kind dabei geholfen hat. »Hier beginnt jetzt die gefährliche Moos«, zeigt die 51-Jährige wenig später mit ausladender Handbewegung auf die baumbestandenen Hänge. Alle Lachen im Gedanken an den Moospfaff. Die Ortskundige aber bezieht sich auf die Geologie. Denn der Begriff »Moos« steht für das Hochlandmoor hier oben: Wer in dem durchweichten Erdreich tief gräbt, der läuft Gefahr, verschüttet zu werden.
Schließlich hat die Gruppe das Sonnenhaus erreicht, eine vom Schwarzwaldverein mietbare Selbstversorgerhütte auf einem Plateau, und genießt im letzten Dämmerlicht die Aussicht. Die Wanderführerin erklärt die Namen der gegenüberliegenden Berghänge, talauswärts reicht die Sicht bei klarem Himmel bis nach Waldshut und ins Elsass.
Spielplatz auf dem Berg
Die bisher bewältigte Strecke ist die heutige Ergotherapeutin schon als Kind unzählige Male gelaufen – bis weiter hinauf zur Kornebene, dem auf 630 Höhenmetern gelegenen Bergsattel, »weil es dort den einzigen Spielplatz in Nordrach gab«, erzählt sie und lacht, »den Weg kenn’ ich im Schlaf.«
Für die Wanderer aber geht es bald stetig bergab. Ein verheißungsvolles Schimmern stellt sich beim Näherkommen als ein Meer von Windlichtern heraus, rund um eine am Wegrand liegende Hütte. Handys und Kameras werden gezückt, um den Anblick für immer zu bannen. Dazu leise elegische Klänge. Und eine dunkle Gestalt, die bedächtig heran schreitet. »Wir schreiben das Jahr des Herrn 1710«, mit lauter Stimme beginnt der Moospfaff von einigen Sagen und Mythen zu berichten, die sich um ihn ranken, und von dem Fluch, der auf ihm lastet.
Er, der Franziskanermönch Benediktus Riescher, war einst als Sohn eines zu seiner Zeit sehr bekannten Baumeisters zur Welt gekommen, sein Grabstein befindet sich in der Klosterkirche Gengenbachs.
Nach rund eineinhalb Stunden ist die Wandergruppe schließlich im Moosbach im hübsch geschmückten Schuppen von Waldemar Neumeyer angekommen. Hier sorgen er und die Stubenwirtin Marianne Lehmann für eine Bewirtung mit Getränken und Grillwürsten, die von der fröhlichen Gästeschar bei einem gemütlichen Hock gerne in Anspruch genommen wird.